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Ein klarer Sieger, zwei wahre Giganten: Wie das Duell Vingegaard-Pogacar faszinierte

Eine Würdigung der spektakulären Tour de France 2023

Ein klarer Sieger, zwei wahre Giganten: Wie das Duell Vingegaard-Pogacar faszinierte

Jonas Vingegaard (li.) hatte im Duell mit Tadej Pogacar erneut die Nase vorn.

Jonas Vingegaard (li.) hatte im Duell mit Tadej Pogacar erneut die Nase vorn. IMAGO/Photo News

Ganz großer Sport, sagt man mitunter so Leichtens dahin. Bei der diesjährigen Tour de France kommt einem diese Standardaussage sofort in den Sinn - und selten ist sie so zutreffend. Was sind das für drei Wochen gewesen, eine spektakuläre, spannende Kletterpartie durch alle fünf Gebirgsketten der Grande Nation vor der Kulisse grandioser Landschaft und fanatischer Zuschauer. Zugegeben, in Sachen Gesamtsieg war am ersten Tag der dritten Woche mit dem Zeitfahren das zuvor epische Ringen um Sekunden mit einem Schlag überraschend entschieden, doch die Tour war mehr als nur das Duell zwischen dem Sieger Jonas Vingegaard und dem Zweiten Tadej Pogacar.

So wurde zum Beispiel an jedem Tag richtig Radrennen gefahren - es gab sie nicht, die ruhigen Überführungsfahrten, jede der 20. Etappen, das für die meisten Fahrer nicht so relevante Zeitfahren ausgeklammert, wurde im Stil eines Eintagesrennens angegangen. Vollgas war somit Programm, was zum Beispiel packende Ausreißversuche en masse zur Folge hatte.

Ein Duell zweier ungleicher Überflieger

Dass der Zweikampf um Gelb aber alles überstrahlte, da gibt es allerdings auch kein Vertun. Der Sport, allen voran der Radsport, zieht einen Teil seiner Faszination auch aus den Duellen zweier Ausnahmekönner, es sei an Fausto Coppi gegen Gino Bartali oder Jacques Anquetil gegen Raymond Poulidor erinnert. In dieser Reihe steht nunmehr auch die Auseinandersetzung zwischen Vingegaard und Pogacar, zwei Überflieger, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Hier der eher introvertierte Däne, der übertrieben gesagt im Stil eines Buchhalters unterwegs ist, dort der immer zu seinem Scherz aufgelegte Slowene, der oftmals angriffslustig ohne Blick auf seinen Leistungsmesser nach vorne prescht.

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Dass die beiden in ihrer eigenen Liga fahren, prophezeiten vor der Tour alle Experten - so kam es dann wenig überraschend auch, wobei sich die Fachwelt einmal doch verwundert die Augen rieb: Und zwar bei Vingegaards Auftritt bei dem einzigen kurzen Zeitfahren der Tour. Deklassierende 1,38 Minuten nahm er bei der 16. Etappe auf den nur 22,4 Kilometern zwischen Passy und Combloux Pogacar ab und beendete damit die Sekundenthriller abrupt.

110. Tour de France

Wenn Letzterer einen schlechten Tag erwischt hätte, wäre das erklärbar gewesen - doch Pogacar war so flott unterwegs, dass er auf den zweiten Platz raste und dabei den Weltklasse-Mann Wout von Aert um 1,13 Minuten auf den dritten Rang verwies. Auch das ist bereits eine Welt, was die Leistung von Vingegaard noch mal in einem anderen Licht erscheinen lässt. Während die einen mit ausgerechneten 7,6 Watt pro Kilogramm von einer der höchst erbrachten Leistungen auf einem Zeitfahrrad sprachen, behaupteten andere sofort, dass da Doping im Spiel gewesen sein muss.

Dass Skepsis sich als steter Begleiter an die Speichen geheftet hat, damit muss gerade der Radsport aufgrund seiner Historie leben, da nutzt ihm auch einer der strengsten Kontrollsysteme im modernen Sport wenig. Nur, Skepsis ist das eine, Behauptungen aufgrund vermeintlich unfehlbarer wissenschaftlicher Fakten das andere. Wenn die Bergauf-Zeiten an einem Pass aus der Lance-Armstrong-Ära nun übertroffen werden, ist dies alles, nur kein unstrittiger Beleg für Doping.

Im Radsport sind seit dem US-Amerikaner die Räder nicht stillgestanden, die heutigen Trainingsmethoden unterscheiden sich gewaltig von den damaligen. Oder man nehme allein das Material: Das mag sich für den Hobbyfahrer nur unwesentlich, weil kaum spürbar verändert haben, bei den Profis können sich aerodynamisch optimierte Kleidung, Helme, Rahmen und Laufräder zu einem Vorteil von 15 bis 20 Watt addieren - dies wiederum bedeutet im Hochleistungsbereich eine kleine Welt.

Pogacar: Tour verloren, Sympathien gewonnen

Keine kleine Welt war es übrigens, wie unerwartet dramatisch Pogacar in der Etappe nach der Zeitfahrklatsche einbrach - knapp sechs Minuten verlor er auf den Dänen, das passiert einem Ausnahmekönner wie ihm in der Regel nicht. Wie er in der Folge darauf reagierte, die vorletzte Etappe in den Vogesen gewann und sich in Paris auf den Champs-Élysées mit großem Kampfgeist immer wieder vorne zeigte, war bemerkenswert und erklärt seine hohe Beliebtheit.

Mit über sieben Minuten Rückstand auf Vingegaard verlor er die Tour, Sympathien hat er wie im vergangenen Jahr bei seiner ersten Niederlage gegen den Dänen gewonnen. Im Duell um den bedeutendsten Sieg im Radsport steht es zwischen Vingegaard und Pogacar 2:2 - und auch, wenn das Momentum derzeit für Vingegaard spricht, ist Pogacar in der Summe dennoch der bessere, weil komplettere Fahrer, der anders als Vingegaard auch bei den Eintages-Monumenten ein Siegfahrer ist.

Im nächsten Jahr wird der dann 25-jährige Pogacar nicht mehr unter die Nachwuchskategorie fallen und sein Weißes Trikot nicht verteidigen können, wobei er ohnehin nur eines im Sinn haben wird: Und zwar Vingegaard wie bei seinem letzten Tour-Triumph 2021 auf den zweiten Platz zu verweisen.

Ein ganz schwieriges Unterfangen, selbst wenn der Tour-Parcours 2024 nicht mehr so berglastig ausfallen wird wie der diesjährige. Sein 26-jähriger Konkurrent hat einen Vorteil, der ihn bei einer dreiwöchigen Landesrundfahrt für Pogacar zwar nicht unbesiegbar, so aber doch schwer zu schlagen macht: Auch wenn die beiden ihr Gewicht unter Verschluss halten, so hat Pogacar einen anderen Körperbau und bringt sichtlich mehr auf die Waage. Die Experten gehen von rund vier Kilos aus, was nichts anderes bedeutet, dass der Slowene bergauf an die 15 Watt mehr aufbringen muss als Vingegaard, allein wenn er nur dessen Tempo fahren will. 15 Watt mehr sind in dem Bereich, in dem sich die beiden bewegen, eine brutale Hausnummer - vor allem auf die Länge von drei Wochen gesehen.

Kein Zweikampf im nächsten Jahr?

So gesehen werden beide mit Spannung auf den Moment warten, wenn die Strecke der Tour 2024 veröffentlicht wird. Dass es dort übrigens erneut nur Vingegaard oder Pogacar heißen wird, ist laut dem Slowenen gar nicht so sicher. Im nächsten Jahr wird aller Voraussicht nach nämlich der amtierende Weltmeister, das belgische Supertalent Remco Evenepoel (23), sein Tour-Debüt geben. Und Pogacar hat mit Blick auf die imposanten Leitungen des einstigen U-15-Fußball-Nationalspielers schon geunkt, dass es dann mit dem Zweikampf vorbei sein könnte, weil Evenepoel nicht beizukommen ist.

Für die deutsche Equipe BORA-hansgrohe endete die Tour versöhnlich mit einem Paukenschlag: Jordi Meeus, ihr einziger Sprinter im Aufgebot, gewann etwas überraschend den prestige-trächtigen Sprint auf dem Pariser Bracht-Boulevard Champs-Élysées. Die Oberbayern, seit 2022 den Fokus auf Rundfahrten legend, wollten mit Jai Hindley den Besten des Rests stellen.

Und bis gegen Ende der zweiten Woche lag der Giro-Italia-Sieger 2022 voll auf Kurs, gewann eine Bergetappe und lag hinter den beiden Giganten auf Podiumskurs. Die Folgen eines Sturzes ließen den Australier dann zwar auf Gesamtrang 7 abrutschen, mit seinem Tour-Debüt konnte der 27-Jährige dennoch zufrieden sein. Dies gilt selbstredend auch für das gesamte Team, das sich für seine couragierte Fahrweise mit zwei Etappen-Siegen selbst belohnen konnte.

Apropos couragiert: Mit dem Sprinter Phil Bauhaus und dem bergfesten Allrounder Georg Zimmermann konnten sich zwei Deutsche bemerkenswert in Szene setzen. Bitter verlief indes die Hatz durch Frankreich für Simon Geschke. Der 37-Jährige, im vergangenen noch der Beinahe-Bergkönig, musste in der dritten Woche wegen Magerproblemen aufgeben,

Auf der Sponsorenseite knallten bei zwei deutschen Unternehmen nach der Schluss-Etappe die Sektkorken: Die vom Shampoo-Hersteller Alpecin gesponserte belgische Equipe Alpecin-Deceuninck, die auf Rädern des deutschen Herstellers Canyon unterwegs ist, gewann mit Jasper Philipsen souverän das grüne Sprinter-Trikot

Chris Biechele

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