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Deutschlands erste Auswahlspiele: Neun Tore und zwei "Leichen"

Erste Spiele einer deutschen Auswahl jähren sich zum 125. Mal

Neun Tore und zwei Absinth-Leichen

Die erste deutsche Nationalauswahl um kicker-Gründer Walther Bensemann (stehend, 3. v. li.).

Die erste deutsche Nationalauswahl um kicker-Gründer Walther Bensemann (stehend, 3. v. li.). Archiv

Nach allem, was man weiß, hat sich in Paris und Umgebung kaum jemand für das interessiert, was sich an jenem 11. Dezember 1898 auf einer Wiese in einer Vorstadt der französischen Metropole abspielte. Nur einige Hundert Zuschauer kamen nach Bécon-les-Bruyères, für Walther Bensemann und seine Mitstreiter war das dortige Ereignis aber so bedeutend, dass sie das deutsche Staatsoberhaupt Wilhelm II. per Telegramm in Kenntnis setzten: "Seiner Majestät dem Kaiser, Potsdam, unterbreiten untertänigst die Vertreter der maßgebenden Vereine des deutschen Fußballsports Berlins die gehorsamste Mitteilung, dass heute in Paris zum ersten Male eine aus allen deutschen Gauen zusammengesetzte Fußballmannschaft über einen hervorragenden französischen Fußballverein einen Sieg von 7 zu 0 Malen errungen hat." Als Antwort kam ein Glückwunschtelegramm des kaiserlichen Hofmarschalls.

Das 7:0 war nicht nur ein Sieg, sondern die Verwirklichung einer Idee, für die Bensemann lange gekämpft hatte. Schon 1894 warb der Fußball-Pionier in einem "Aufruf an die Herren Capitaine aller Fußballclubs in Deutschland" für Begegnungen mit französischen Mannschaften. Er wollte durch Sport Frieden stiften in einer Zeit, die geprägt war von anhaltender Feindschaft zwischen den Nachbarn, drohendem Krieg und erheblichen Vorbehalten auf beiden Seiten. Vier Jahre später rang Bensemann dem Berliner Fußball- und Cricket-Bund das Einverständnis zu einer solchen Partie ab.

Schon tags darauf gab es den zweiten Sieg

Für die Reisekosten in Höhe von 3000 Mark samt erstklassigem Hotel kam der damals 25-Jährige selbst auf, das Geld hat er sich vermutlich geliehen. So versammelte sich - gut ein Jahr vor der Gründung des DFB im Januar 1900 - eine von acht Berliner Spielern dominierte Elf, vervollständigt durch Torwart Ludwig Friese (Alemannia Hamburg), Rudolf Wetzler (Freiburger FC) und Bensemann (Straßburger FV). Auch der Gegner, den Bensemann zuvor bei einem Aufenthalt in Paris ausfindig gemacht hatte, war keine französische Nationalelf, sondern der Spitzenklub White Rovers, für den hauptsächlich Briten aufliefen. Dem ersten Spiel folgte tags darauf spontan ein zweites gegen eine Pariser Stadtauswahl, das die deutsche Mannschaft 2:1 gewann.

Politisch waren die Spiele in Paris im Nachhinein bedeutsamer als die gegen England.

Autor Bernd-M. Beyer

Vom sportlichen Wert reichen die Duelle in Paris nicht an die im November 1899 folgenden "Ur-Länderspiele" gegen eine englische Auswahl heran. "Man kann rein sportlich nicht von Länderspielen sprechen", sagt Bernd-M. Beyer. Der Autor des biografischen Romans über Bensemanns Leben ("Der Mann, der den Fußball nach Deutschland brachte") merkt aber an: "Politisch waren die Spiele in Paris im Nachhinein bedeutsamer als die gegen England, weil Bensemann sie besonders deutlich in den Kontext der Völkerverständigung und der Verhinderung eines weiteren Krieges stellte."

Der Verbrüderung zwischen Deutschen und Franzosen dienten vor allem auch die Stunden zwischen den Spielen, in denen sich die Gäste ins Nachtleben der pulsierenden Metropole einführen ließen. Eine Anekdote von jener Reise war Bensemann auch 34 Jahre später noch derart präsent, dass er sie 1932 im von ihm gegründeten kicker schilderte: "Um 3 Uhr sollten wir uns in Béconles-Bruyères befinden, und um 12 Uhr teilte mir Reginald Westendarp (ein Mitspieler, d. Red.) mit einem spöttischen Lächeln mit, zwei unserer Spieler seien total besoffen. Ein Pariser, der lange in Berlin gespielt hatte, hatte sie mit zu einem Spaziergang genommen, und ein anderer hatte ihnen Absinth zum Frühschoppen vorgesetzt. Westendarp begoss die beiden so lange mit Wasser, bis das Badezimmer einem kleinen See glich. Leider war der Schaden nicht mehr zu reparieren; wir mussten mit unseren Absinthleichen antreten, die sich erst nach der Pause einigermaßen erholten."

Das wesentlich knappere Resultat im zweiten Spiel mag diesem Umstand geschuldet sein, die Namen der zwei verkaterten Spieler verriet Bensemann nicht.

Das erste Spiel einer deutschen National-Auswahl

Auf einer Wiese einer Pariser Vorstadt: Ein Foto des ersten Spiels einer deutschen National-Auswahl. Archiv

Nach öffentlicher Kritik: Bensemann suchte die körperliche Auseinandersetzung

Als Torschützen sollen in den beiden Partien besonders Walter Jestram und Max Willer von Britannia 92 geglänzt haben. "Die Helden des Tages waren Jestram, Willer und Kralle", schrieb die Berliner Illustrierte "Sport im Bild". Herausgeber Andrew Pitcairn-Knowles, der dem für das Konkurrenzblatt "Spiel und Sport" tätigen Bensemann in tiefer Abneigung verbunden war, fügte hinzu: "Auch die anderen gaben ihr Bestes, obgleich ein Spieler in der Mannschaft war, welcher absolut nicht in dieselbe hineingehörte und dessen Spiel oft geradezu komisch wirkte."

Die spitze Bemerkung nahm Bensemann persönlich. Er hatte sich als Kapitän der schwarz gekleideten deutschen Mannschaft schon allein optisch abgehoben, weil er als Einziger eine weiße Hose trug. Nun sah er sich öffentlich blamiert - und forderte den Verfasser zu einem Duell "auf Säbel ohne Binden und Bandagen" heraus. Als Pitcairn-Knowles ablehnte, wollte Bensemann die "kleine Differenz auf englische Art schlichten", mit einer Prügelei vor einer Kneipe. Doch auch darauf ließ sich der Schotte nicht ein.

"Bensemann neigte zu emotionalen Reaktionen und fühlte sich offenbar in seiner sportlichen Ehre gekränkt", sagt Biograf Beyer über diese überraschend aufbrausende Seite des sonst so weltgewandten Pioniers. "Es lässt sich nicht sagen, ob er wirklich so schlecht gespielt hat. Er war jedenfalls eher ein wuchtiger Stürmer als ein technischer perfekter." Ein Jahr später gegen die Engländer spielte Bensemann jedenfalls nicht mehr selbst. Seine Verdienste um die ersten internationalen Spiele einer deutschen Auswahl schmälert all das aber nicht.

David Bernreuther

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