Eins hat Erik ten Hag seinen beiden Vorgängern schonmal voraus: In seiner bislang noch kurzen Amtszeit bei Manchester United konnte der neue Trainer - anders als Ole Gunnar Solskjaer und Ralf Rangnick - endlich die Trophäen-Durststrecke des Vereins beenden.
Zugegebenermaßen, der "Bangkok-Century-Cup", den die Red Devils durch ein 4:0 gegen Liverpool in einem Vorbereitungsspiel ihr Eigen nennen dürfen, hat dann doch nicht ganz so viel Prestige wie der FA Cup oder der Premier-League-Titel.
Die teils ironisch euphorischen Reaktionen der Fans in den sozialen Netzwerken lassen aber tief blicken in das Stimmungsbild bei Manchester United vor Saisonstart. Einerseits ist da vorsichtiger Optimismus, gepaart mit britischem schwarzen Humor - gleichzeitig aber auch eine gewisse Gleichgültigkeit. Die enttäuschenden letzten Jahre, die in der desolaten, vergangenen Saison kulminierten, haben Spuren hinterlassen.
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Wie lief die Transferphase?
Um endlich auch wieder Silberware außerhalb Thailands zu gewinnen, steht bei ManUnited in diesem Sommer der x-te Umbruch an. Mit ten Hag konnten die Verantwortlichen einen aufstrebenden, ehrgeizigen Coach für sich gewinnen.
Bei den Verpflichtungen von Christian Eriksen, Lisandro Martinez und Tyrell Malacia tätigten die Red Devils in diesem Sommer bislang drei clevere Transfers und sicherten sich Spieler, die sinnbildlich für die ten-Hag'sche Philosophie stehen: technisch beschlagen, flexibel, zuverlässig.
Martinez könnte neben Kapitän Harry Maguire die Innenverteidigung bilden, Malacia soll Luke Shaw auf der linken Abwehrseite Konkurrenz machen. Eriksen kann Bruno Fernandes auf der Zehn entlasten, rechts aushelfen oder sogar notgedrungen mit einem Partner das defensive Mittelfeldzentrum bilden.
Denn: Weiterhin bleibt das zentrale, defensive Mittelfeld die große Problemstelle. Durch die ablösefreien Abgänge von Paul Pogba und Nemanja Matic wurde das taugliche Personal bis aufs Minimum ausgedünnt. Bei den komplizierten Verhandlungen um ten Hags absoluten Wunschspieler Frenkie de Jong scheint eine Einigung nicht in Sicht. Dem Kader fehlt es weiterhin an zwingender Tiefe und Verstärkungen.
Was macht Hoffnung?
Die Testspiele in Thailand und Australien lösten trotzdem eine kleine Welle der Euphorie in den Fan-Lagern aus. Endlich waren Anzeichen einer so lange vermissten Spielidee eines Trainers zu erkennen. Gegen Mannschaften wie Crystal Palace (3:1) zeigten die Red Devils klare Pressingstrukturen und schnellen, effizienten Kombinationsfußball. Der deutliche Erfolg gegen Rivalen Liverpool bereits zu Vorbereitungsbeginn war das Sahnehäubchen.
Großen Anteil daran hatte das Offensivtrio aus Marcus Rashford, Jadon Sancho und Anthony Martial. Während für alle drei die vergangene Spielzeit aus verschiedenen Gründen wohl eine zum Vergessen war, spielten vor allem die beiden Letztgenannten in der Vorbereitung groß auf und versprechen viel für die kommende Saison.
Spielte eine starke Vorbereitung und könnte ManUniteds Offensive anführen: Anthony Martial. IMAGO/AAP
Was macht Sorgen?
So viel Spaß das Dreiergespann den Fans in der Vorbereitung machte, sorgt es gleichzeitig für mindestens genauso viel Kopfzerbrechen. Denn: Bei einem bei vier Wettbewerben wahrscheinlichen Ausfall von Sancho und Co. sieht die Kadersituation düster aus. Anthony Elanga, Amad oder Alejandro Garnacho heißt möglicher Ersatz. Spieler mit bemerkenswertem Potential, die aber noch nicht wirklich bereit wirken für die Premier League.
Und dann gäbe es da ja noch einen, der für den Sturm in Frage käme: ein gewisser Cristiano Ronaldo. Der Portugiese verpasste fast die komplette Vorbereitung, offiziell aus familiären Gründen. Übereinstimmenden Medienberichten zufolge möchte der 37-Jährige aber ManUnited unbedingt verlassen. Bleibt er, stellen sich Fragen der Systemtauglichkeit. Geht er, steht mit Martial lediglich noch ein zentraler Stürmer im Kader. Die Zahlen sprechen jedoch für sich: 24 Tore erzielte CR7 in der vergangenen Saison. Mehr als doppelt so viele wie Rashford, Sancho und Martial zusammen (elf Tore).
Zusätzlich sorgt wie erwähnt das defensive Mittelfeld für Bedenken. Fred, einer der wenigen Gewinner unter Rangnick, überzeugte auch in der Vorbereitung und wird wohl gesetzt sein. Sollte kein Neuzugang mehr geholt werden, dürfte daneben wieder der leidenschaftliche, aber limitierte Scott McTominay auflaufen. Eine Mittelfeld-Kombination, die im Vergleich zu ManCity, Liverpool oder Chelsea klar abfällt.
Die Prognose
Es fällt also so schwer wie seit langem nicht mehr, Manchester United einzuschätzen. Das Projekt wirkt neu, mit ten Hag steht ein aufregender, in den Top-Ligen noch unerfahrener Trainer an der Seitenlinie. Auf dem Transfermarkt wurden - für United-Verhältnisse überraschend - sinnvolle Deals eingefädelt. Den Spielern ist wiedergefundenes Selbstvertrauen und eine Spielfreude anzumerken.
Gleichzeitig sind da aber auch die altbekannten Baustellen. Noch immer hat man im defensiven Mittelfeld keinen Nachfolger für Michael Carrick (beendete in der Zwischenzeit 2017 seine Karriere, assistierte danach vier Jahre lang José Mourinho und Solskjaer, wurde selbst Trainer, übernahm interimsweise an der Seitenlinie und verließ den Verein im Anschluss) gefunden. Noch immer beherrschen Transferpossen wie bei Ronaldo oder de Jong den Sommer und werfen Fragen auf. Noch immer wirkt der Kader nicht wie einer, der um große Titel spielen kann.
So wird es wohl auch dieses Jahr sein. Das primäre Ziel für ten Hag und Manchester United dürfte ein Platz unter den besten Vier und eine Qualifikation für die Champions League sein. Die Red Devils bleiben eine Mannschaft, die in der Liga auch City oder Liverpool schlagen kann, langfristig bei 38 Spieltagen ist die Konkurrenz aber zu stark.
In den nationalen Pokalwettbewerben, in denen nur eine Partie entscheidend ist, kann sich der englische Rekordmeister dann schon mehr ausrechnen - abhängig von den zugelosten Gegnern. In der ungeliebten Europa League zählt auch dieses Jahr eigentlich nur der Titel. Es wäre ja bekanntlich der zweite der Saison.