EM

Der EM-Triumph 1972: "Och, macht doch, was ihr wollt"

Mit Traumfußball und Traumtoren zum Titel

Der EM-Triumph 1972: "Och, macht doch, was ihr wollt"

Bundestrainer Helmut Schön mit dem EM-Pokal 1972 in Brüssel.

Bundestrainer Helmut Schön mit dem EM-Pokal 1972 in Brüssel. imago images/WEREK

Laufkundschaft war das nun wirklich nicht, die sich der Deutsche Fußball-Bund am 26. Mai 1972 zur offiziellen Eröffnung des Münchner Olympiastadions eingeladen hatte. Die Nationalmannschaft der UdSSR konnte die beeindruckende Liste von 17 ungeschlagenen Spielen in Serie vorlegen, tatsächlich hatte man seit dem 6. August 1969 (0:1 gegen Schweden) nur ein einziges Spiel verloren - das WM-Viertelfinale 1970, als die "Sbornaja" nach Verlängerung Uruguay 0:1 unterlag.

Nun also das Spiel gegen diese deutsche Mannschaft, die seit dem Sieg gegen England in Wembley in aller Munde war. "Überragend, wie sie dort gespielt hat", schwärmte German Sonin, der in der Vorbereitung als Trainer der Sowjets fungierte, vor dem Spiel im kicker. Er musste in die Verantwortung, da Cheftrainer Alexander Ponomarjow in Moskau eine schwere Erkrankung auskurierte und dessen Assistent Nikolai Guljajew unglücklicherweise in der sowjetischen Hauptstadt festsaß, weil ein Visum fehlte.

Sonins (Vor-)Ahnung bewahrheitet sich

Sonin also - ansonsten Trainer von Sarja Woroschilowgrad - oblag die letzte Phase der Planung vor dem Spiel im neuen Olympiastadion, und als hätte er geahnt, was sich an diesem Maitag unter dem futuristischen Zeltdach der Arena zusammenbraute, schwärmte er dem damaligen kicker-Chefredakteur Karl-Heinz Heimann vor: "Wir haben das England-Spiel komplett gesehen, das war schon begeisternder Fußball." Netzer sei "einmalig, wie er rennt und kämpft, was er mit dem Ball macht, wie er das Spiel überblickt." Über Gerd Müller urteilte Sonin: "Sein Tor dort, das macht ihm auf der ganzen Welt niemand nach. Da reden immer alle, sie wüssten ganz genau, wie der Müller seine Tore schießt, und doch macht er es immer wieder anders."

Die deutschen EM-Gewinner von 1972

Die deutschen EM-Gewinner von 1972. picture-alliance / Sven Simon

Der Mann hatte zweifellos (Vor-)Ahnung. Zwei Tage nach diesem Gespräch traf Gerd Müller viermal gegen die Sowjets, nach torloser erster Hälfte besiegte die deutsche Elf vor 80.000 euphorischen Zuschauern in einem wahren Fußballfest den großen Konkurrenten mit 4:1. Sie hätte deutlich höher gewinnen können, fast fahrlässig gingen die Schützlinge von Helmut Schön mit ihren Chancen um.

Verblüffend auch für heutige Beobachter dieser 90 Minuten: Netzer, Beckenbauer und Co. variierten das Tempo. Alle Positionen und Räume waren nahezu immer besetzt, wenn der Mitspieler sich nach vorne einschaltete. Sie verlagerten die Seiten, von wo sie häufig im Duo (rechts Heynckes/Hoeneß, links Kremers/Wimmer oder Breitner) angriffen.

Sie agierten situativ mit Pressing nach Ballverlusten vor dem gegnerischen Strafraum, man nannte dies damals "Forechecking", ein Lehnswort aus dem Eishockey und seinerzeit eine absolute Seltenheit auf den Fußballplätzen Europas, mit Ausnahme jener in Holland. Aber "Oranje" - mit Ajax und Feyenoord auf Klubebene bereits führend - musste noch zwei Jahre auf seine Sternstunden warten. Tatsächlich aber offenbarte auch dieses Spiele eine Menge dessen, was den modernen Fußball von heute charakterisiert.

EM 1972

Das deutliche 4:1 wirkte auf die Sowjets wie ein schwerer und entscheidender Niederschlag auf einen Boxer. In der Regel setzt solch ein Erlebnis etwas in Gang im Kopf und häufig nichts Gutes. Vorsicht, ja Angst, bestimmt meist im nächsten Duell mit dem Gegner, der mich dermaßen verprügelt hat, die Gedanken.

Und exakt so ging es auch den Russen. Im Halbfinale der Endrunde in Belgien knapp vier Wochen später noch siegreich gegen Ungarn, agierte man gegen Deutschland im Finale wie das Kaninchen vor der Schlange. Das Vorspiel in München hatte seinen Dienst getan und seine Wirkung mit voller Wucht entfaltet.

Schön: "Die gesamten letzten Monate waren Traummonate für mich"

"Wir haben uns wie zu Hause gefühlt", erinnert sich Günter Netzer an die 90 Minuten von Brüssel, "wir waren enorm selbstbewusst und davon überzeugt, dass unser Weg weitergeht. Und wir hätten nie zugelassen, von den Russen gestoppt zu werden." Entsprechend fiel die Ansprache des Trainers vor der Partie aus.

"Och, macht doch, was ihr wollt", gab der im Alltag übervorsichtige Helmut Schön seinen Spielern mit auf den Weg in ein Spiel, das 3:0 endete und den Trainer nach dem Schlusspfiff glückselig resümieren ließ: "Mein Dank gilt unserer Mannschaft für ihre großartige Leistung. Sie hat sich diesen Titel nicht nur am heutigen Sonntag, sondern schon in den vorausgehenden Spielen gegen England, gegen die UdSSR in München und am Mittwoch gegen Belgien verdient. Die gesamten letzten Monate waren Traummonate für mich als Trainer. Mit solchen Spielern zu arbeiten, das macht einfach glücklich."

Traummonate, Traumfußball, Traumtore. Allein der Treffer zum 1:0 offenbarte die Verteilung der Kräfteverhältnisse an diesem 18. Juni 1972 im Heysel-Stadion: Beckenbauers Sprint durchs Zentrum, der Pass auf Müller, dessen halbhohe Ablage für Netzer, perfekt für dessen Volleyschuss, der an die Querlatte klatschte. Den missglückten Versuch einer Abwehr nahm Heynckes wieder aus der Luft, Rudakow konnte nur unzulänglich ins Zentrum klären, wo Müller - umgeben von lauter Abwehrspielern - am schnellsten reagierte und nach 28 Minuten mit seinem 50. Tor im 41. Länderspiel dafür sorgte, dass die optische Überlegenheit der Schön-Elf sich endlich auch in Zahlen ausdrückte.

Der Rest war Spielkontrolle auf hohem technischen und läuferischen Niveau. Die Sowjets zeigten sich über die gesamte Spielzeit nicht mehr in der Lage, die deutsche Mannschaft ernsthaft in Gefahr zu bringen. Und die ließ das gesamte Stadion und alle Menschen an den Fernsehgeräten teilhaben an der großen Freude darüber, dass ihr der Sieg nicht mehr zu nehmen war - dies über eine Stunde lang.

Der Mannschaft gelangen die feinsten Striche - Fans sorgen für schwarzen Fleck

Für Helmut Schön endete mit diesem Tag beileibe nicht seine Amtszeit. Allerdings seine schönste Zeit als Bundestrainer. Im Gedächtnis der Fußballgemeinde kommt "der Lange" wohl bis heute deutlich zu schlecht weg. Schon 1966 - noch im Schatten des Übervaters Sepp Herberger, der nie loslassen konnte - formte Schön ein Team, das seinesgleichen sucht in der deutschen Fußballhistorie.

Der Vizeweltmeister mit Spitzenkönnern wie Beckenbauer, Weber, Overath, Haller oder Seeler überzeugte in England vor allen Dingen fußballerisch, ebenso die legendäre Mannschaft, die 1970 in Mexiko Platz 3 belegte. Schöngeist Schön ließ Fußball spielen und übermalte das Bild vom kraftstrotzenden Deutschen, die feinsten Striche gelangen ihm und seiner Mannschaft im Frühjahr/Sommer 1972. Eine Zeit, die so nie wiederkommen sollte. "Deutschland ist Europas König!" titelte der kicker nach dem Spiel. Und Könige werden eben nur einmal gekrönt.

Deutsche Fans 1972 in Brüssel

Deutsche Fans 1972 in Brüssel. imago images/Colorsport

Was auch blieb: die Erinnerung an unschöne Szenen. Bereits lange vor dem Abpfiff veranstalteten deutsche Fans einen Platzsturm, mussten von der belgischen Polizei zurückgedrängt werden, damit das Spiel beendet werden konnte. Nach dem Schlusspfiff gab es kein Halten mehr, und während der deutsche Fußball Weltruf genoss, präsentierten sich seine Anhänger so, wie man Deutsche nicht mehr sehen wollte: laut, pöbelnd, enthemmt und einnehmend. Ein schwarzer Fleck auf einer ansonsten weißen Weste.

Dieser Artikel erschien zunächst im kicker 48/2022 am 12. Juni.

Weitere Erzählungen und Details rund um Deutschlands ersten Europameister-Titel können Sie in unserer achtteiligen kicker-Serie zum 50-jährigen Jubiläum lesen - auch in der kicker eMagazine App (Android oder Apple).

Frank Lußem

Deutschlands beste Elf? Die Europameister von 1972