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DFB-Akademie erstellt eine Torhüter-DNA

Im Rahmen des "Projekts N28" entstand eine Kette von zehn "Genen"

Die Zehnkämpfer unter den Fußballern: DFB-Akademie erstellt eine Torhüter-DNA

Bällehalten, Wegverteidigen, Mitspielen: Das Torwartspiel ist komplex.

Bällehalten, Wegverteidigen, Mitspielen: Das Torwartspiel ist komplex. imago images (3)

Wenn Manuel Neuer (36) sich auch mit 50 Jahren noch in der Verfassung der jüngsten Länderspiele präsentiert, gäbe es im Tor der deutschen Nationalelf sicher kein Problem. Erst recht nicht, könnten auch seine momentanen Stellvertreter dem Alterungsprozess trotzen. Aber auch Weltklasse-Athleten unterliegen eben den natürlichen Gesetzen.

"Im Moment befinden wir uns noch in der Komfortzone, sind auf der Position mit unseren A-Nationaltorhütern gut besetzt", sagt DFB-Torwartkoordinator Marc Ziegler. "Für die Zeit danach müssen wir jetzt unsere Hausaufgaben machen und ein paar Dinge anschieben, um im Frauen- und Männerfußball die nächste Generation heranzuführen."

Ziegler erstellt mit DFB-Akademieleiter eine "Torwart-DNA"

Im Rahmen des "Projekts N28", das die Personallage der Auswahl im Jahr 2028 projiziert, hat Ziegler mit DFB-Akademieleiter Tobias Haupt auf breiter Ebene mit Torwarttrainer-Kollegen eine "Torwart-DNA" erstellt, die das Anforderungsprofil des Nationalkeepers der Zukunft veranschaulicht. Zugleich liefere man eine Vision, wie sich eine Entwicklung zum Bundesliga- oder A-Nationalmannschaftstorhüter vollziehen könne. "Wir wollen den Mädchen und Jungen ein verständliches, attraktives Leitbild aufzeigen, ihnen eine gewisse Orientierung geben", so der 46-Jährige.

Marc Ziegler

Marc Ziegler präsentiert eine Kette von zehn "Genen". kicker

Entstanden ist eine Kette von zehn "Genen". Bausteine, mit denen nicht das berühmte Rad neu erfunden wurde, sondern in denen die Heranwachsenden sich wiederfinden und abgeholt werden - mit einem zeitgemäßen Vokabular, mit dem wichtige Inhalte griffig verpackt werden und Schlagwörter nicht als Worthülsen stehen bleiben.

Geht der Schalter erst an, wenn der Pass in die Tiefe schon gespielt wird? Zu spät! Wir wollen einen Torhüter, der das Spiel liest wie Manuel Neuer.

Marc Ziegler

Online sein etwa ist in diesem Sinne ein erstes wichtiges Stichwort für Ziegler, denn: "Geht der Schalter erst an, wenn der Pass in die Tiefe schon gespielt wird? Zu spät! Wir wollen einen Torhüter, der das Spiel liest wie Manuel Neuer." Und der Schlüsselbilder mit dem eigenen Auge erkennt, die jeweilige Situation entsprechend vorausahnen, einschätzen und schließlich lösen kann.

Mit den Informationen, die der Torhüter aus den Aktionen vor ihm zieht, kann er weiteren Eigenschaften, die in der DNA vorgesehen sind, gerecht werden und so etwa in die Rolle eines Positionsmanagers wachsen, der seinen Standort im oder vor dem Tor aktiv dem Spiel anpasst, um bestmöglich zu handeln.

Neben Kerngeschäft: Torhüter soll gefährliche Situationen "wegcoachen"

Obendrein wird er zu einem Organisator, der durch gezieltes Anweisen seiner Vorderleute gefährliche Situationen schon in der Entstehung "wegcoachen" kann. Gutes Positionsmanagement helfe ihm als Raumverteidiger, also beim Abfangen von Flanken, Querpässen und Gegnerbällen in die Tiefe, sowie als 1. Offensivspieler, wo es um wichtige Impulse für die Spielgestaltung der eigenen Mannschaft gehe, so Ziegler. Den Verweis aufs Kerngeschäft - das Bällehalten - versäumt der 103-malige Bundesliga- torhüter (Stuttgart, Bielefeld, Hannover, Dortmund) bei alledem nicht: "Der absolute Wille, der Biss, das Tor zu verteidigen, steht schon von der Position her an oberster Stelle."

Dazu braucht es die seit jeher vermittelten Skills als Athlet und Techniker, die ebenfalls als Bausteine in der DNA verankert sind. Die Basics in der - wie Ziegler sie nennt - Werkzeugkiste paaren die "Hand-Werker" im Idealfall mit dem besagten Willen, mit Mut und Überzeugung. So reift im Idealfall der von den Trainern stets gewünschte "Typ im Tor", der sich mit seinem individuellen Charakter souverän ins Teamgeschehen einbringt, dort zum wichtigen oder sogar führenden Faktor werden kann.

Ziegler: "Wichtig sind die Grundlagen. Die Veredelung erfolgt durch die eigene Persönlichkeit als Organisator plus der Ausstrahlung, um schließlich performen zu können." Es spiele eben nicht immer der beste Torwart, sondern der, der der Mannschaft als Gesamtpaket am meisten gibt.

Manuel Neuer

Neben dem Kerngeschäft des "Bällehaltens" sind bei Torhütern wie Manuel Neuer auch andere Fähigkeiten gefragt. IMAGO/Team 2

Die Zehnkämpfer unter den Fußballern

Solch ein Performer im Spiel zu sein - dies ist ein wichtiges Ziel auf dem Pfad der Torwartausbildung. Fürs höchste Niveau muss alles passen. "Wir sind Zehnkämpfer! Die zehn Bausteine müssen da sein, um im Spitzenfußball und international bestehen zu können", weiß Ziegler um die Anforderungen beim DFB. "Die Gewichtung in der DNA ist von Jahrgang zu Jahrgang unterschiedlich ausgeprägt. Im oberen Bereich bist du eben Performer, du wirst nach Toren gemessen, da führt kein Weg dran vorbei. Da bist du gläsern, da ist die Öffentlichkeit und bewertet alles - da muss es klappen."

Tool "Sportschau" hilft bei der Analyse

In der Praxis der DFB-Ausbildung hilft die Visualisierung. In einem "Sportschau" genannten Tool können die Junioren-Nationaltorhüter und -torhüterinnen Spielszenen der "Großen" und auch eigene Ausschnitte aus ihren Länderspielen ansehen und analysieren. Sie werden ihnen vom Verband zur Verfügung gestellt. Für Ziegler ist dies ein gewaltiger Mehrwert.

"Wir gehen im Training extrem viel auf diese Szenen ein und versuchen, Einheiten danach zu gestalten. Wir wollen die Torhüter die spielnahen Abläufe so weit es geht im Torwarttraining nachstellen lassen und mit ihren Erfahrungswerten koppeln, damit sie somit genau in den Dingen ausgebildet werden, die sie im Spiel brauchen." Dies müsse im regelmäßigen Torwarttraining und im integrativen Training mit der Mannschaft geschehen. "Wo sollen die Torhüter es sonst lernen? Im Spiel hast du ganz wenige Aktionen, in denen du diese Erfahrungen sammelst. Du kannst dort auch nichts ausprobieren, sondern musst ja funktionieren."

Positive Rückmeldungen im Jugendbereich

Bei den DFB-Junioren bestätigen die bisherigen Rückmeldungen Koordinator Marc Ziegler darin, beim Blick auf 2028 in die richtige Richtung zu schauen. Gut komme an, dass die Jahrgangs-Torwarttrainer ihre Gruppe aktiv auf Basis von Torwart-DNA und "Sportschau" in Gestaltung und Nachbereitung des Trainings einbinden. "Das macht den Torhütern Spaß. Sie machen sich Gedanken über ihr Agieren als Torwart. Und wenn du dir Gedanken machst - wir alle denken in Bildern und Erinnerungen - dann bist du in der Sache dabei, es wird nachhaltiger und geht mehr in die Tiefe." Das neue Wording komme hinzu. Wenn nach einem Spiel Selbstkritik gefragt sei, erhalte Ziegler Antworten wie: "Ich war heute nicht so der Organisator, war als Persönlichkeit nicht so präsent."

Entdecken, entwickeln, etablieren und in der Elite ankommen - das sind die vier E als Kernfaktoren.

Marc Ziegler

Wo aber schlummert vielleicht der nächste Weltklassetorhüter? "Wir beginnen, die Spieler im U-14-Bereich mit unseren Vorstellungen bekannt zu machen und schauen zugleich, welche Torhüter in den Auswahlteams von ihrem gesamten Auftreten her erahnen lassen, dass hier ein Top-Talent heranwächst. Entdecken, entwickeln, etablieren und in der Elite ankommen - das sind die vier E als Kernfaktoren", beschreibt es Ziegler.

Nicht nur für ihn und die DFB-Ausbilder spielt diese Früherkennung eine nicht unwesentliche Rolle. Sie beginnt wie überall in der Talentförderung an der Basis. Inhalte, Vokabular und Form sowie die daraus mögliche Kommunikation können als weitere wichtige Instrumentarien die tägliche Arbeit optimieren, in den Leistungszentren und Vereinen, wo die Torwarttrainer vielerorts bereits einen guten Job im Sinne der DNA-Philosophie verrichten. "Alle Bausteine sind wichtig für ein ganzheitliches Torwartspiel. Überall und von der U 12 bis hin zu den Senioren."

Spielpraxis auf angemessenem Niveau bereitet Sorgen

Um tatsächlich einmal "einer wie Neuer" zu werden, muss freilich einiges hinzukommen. Sorge bereitet den DFB-Verantwortlichen der Mangel an der so dringend nötigen Spielpraxis auf angemessenem Niveau. "Wir haben im Moment im Tor nicht die Plätze in der 1. und 2. Liga für unsere Nachwuchstalente", weiß Ziegler. "Die Älteren spielen, weil sie gut sind, die Jungen generieren ihren Mehrwert nicht, weil sie nicht spielen. Sie müssen Umwege gehen - übers Ausland oder eben die deutsche 3. Liga, die für uns eine wichtige Spielklasse zum Sammeln von Erfahrungswerten ist, um für höhere Aufgaben gut vorbereitet zu sein."

Michael Richter

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