Junioren (D)

Hannes Wolf im Interivew: "Wir brauchen keine 5000 Hütchen"

Was der neue DFB-Direktor im März sagte

Wolfs Idee vom Nachwuchs: "Wir brauchen keine 5000 Hütchen"

Soll den deutschen Nachwuchsfußball voranbringen: Hannes Wolf.

Soll den deutschen Nachwuchsfußball voranbringen: Hannes Wolf. IMAGO/Hartenfelser

Dieses Interview erschien zuerst am 5. März 2023 in der Printausgabe des kicker

Die vergangenen drei Turniere verliefen für die Nationalelf äußerst unbefriedigend - und die mittelfristigen Zukunftsaussichten versprechen wenig Besserung. Der Fußball in Deutschland kämpft mit einem Nachwuchsproblem: Außenverteidiger, Flügel- und Mittelstürmer fehlen.

Die drei DFB-Trainer Hermann Gerland, Hannes Wolf und Hanno Balitsch wollen Abhilfe schaffen - und sprechen mit viel Herzblut über ihr neues Konzept für ein einfaches, aber effektives Kinder- und Jugendtraining.

Herr Gerland, können Sie sich noch an Ihre fußballerischen Anfänge erinnern?

Hermann Gerland: Natürlich! Wir haben damals jeden Tag Fußball gespielt. Wir hatten einen kleinen Sportplatz mit nur einem Tor, der leicht abschüssig war. Richtung Tor ging’s bergab. Auf der anderen Seite haben wir uns mit Rucksäcken oder Taschen ein zweites Tor gebaut. Wenn mein Kumpel, der den einzigen Ball hatte, da war, haben wir damit gespielt. Kam er nicht, war der Tag versaut, dann mussten wir was anderes zum Kicken nehmen.

Und an Ihr erstes Training im Verein?

Gerland: Ach, da hatten wir damals Trainer, die kaum Ahnung von der Materie hatten. Bei Weitmar 09 gab’s einen Ascheplatz mit einem Geländer drum herum. Zum Warmmachen ging’s erst einmal eine Runde am Geländer entlang um den Platz, drunter, drüber, drunter, drüber, immer abwechselnd. Danach warst du eigentlich schon fertig. Anschließend ging’s 100 Meter im Entengang über den Platz, danach mussten wir uns dann gegenseitig Huckepack nehmen. Ich wog damals 35 Kilogramm, mein Kumpel 50. Eine Katastrophe.

Herr Balitsch, wie war es bei Ihnen, mehr als eine Generation später?

Hanno Balitsch: Ich hatte Glück. Ich habe für einen kleinen Verein gespielt, den FC Alsbach, und hatte einen Trainer, der sehr engagiert war. Er hat uns lange betreut - und wir sind gemeinsam gewachsen über die Jahre. Für damalige Verhältnisse war das Training richtig gut, deshalb konnte ich auch bis zur A-Jugend dort bleiben. Ich gehöre ja noch zu denen, die nicht durch ein Nachwuchsleistungszentrum gegangen sind, bevor sie Profi wurden. Ähnlich wie Hermann bin ich damals auch direkt nach der Schule rausgegangen, um zu kicken. Das ist mit der heutigen Situation der Kinder nicht mehr vergleichbar. Meine Jungs sind zwölf und zehn Jahre alt, sie haben diese Zeit meist nicht mehr. Das ist mit Blick auf ihre fußballerische Entwicklung schade. Denn ich bin der Meinung: Genau dieses freie Kicken hat uns damals gut gemacht.

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Herr Wolf, Hanno Balitsch hat es bereits angedeutet: Es wird heute weniger gekickt im Kinder- und Jugendalter, als das bei früheren Generationen der Fall war, etwa weil viele auf Ganztagsschulen gehen und das Freizeitangebot größer geworden ist.

Hannes Wolf: Ja, aber daran allein liegt es nicht. Ich bin in Dortmund aufgewachsen, 200 Meter neben einem Ascheplatz, der nie abgeschlossen war. Wann immer ich Zeit und Lust hatte, bin ich mit meinen Brüdern, vor allem mit meinem älteren, dort hingegangen. Wäre dieser Platz abgeschlossen gewesen, wäre ich mit Sicherheit kein Stürmer auf halbprofessionellem Niveau geworden. Und da fängt es ja schon an: Heute sind die Plätze oft nicht zugänglich - und wenn die Kinder über den Zaun klettern, steht, wenn's blöd läuft, kurz darauf die Polizei bei den Eltern vor der Tür. Diese gesellschaftlichen Entwicklungen haben dazu geführt, dass der organisierte Sport - im Verein oder in der Schule - sehr an Bedeutung gewonnen hat. Umso wichtiger ist es, dass das Training dort gut ist.

Genau dort wollen Sie ansetzen. Sie haben kürzlich ein Video auf dem DFB-Profil bei Youtube veröffentlicht, in dem Sie Musterübungen und einen Trainingsplan vorstellen. Woher kam der Impuls dazu?

zum Thema

Wolf: Die Grundfrage war: Was müssen Kinder und Jugendliche trainieren, um sich bestmöglich zu entwickeln? Denn wir müssen an dieses Thema im deutschen Fußball unbedingt ran. Aus zwei Gründen. Erstens: Wir haben zu wenige Spieler im Spitzenbereich, der Pool an potenziellen Nationalspielern wird kleiner. Zweitens: Die Vereine in Deutschland melden zunehmend ihre A-Jugend ab, weil es nicht mehr genug Spieler gibt. Das ist eine Entwicklung, die ich mindestens genauso schlimm finde. Der Weg sollte sein, dass man als Fußballer mit 35 seine aktive Laufbahn beendet und sagt: Ich hatte eine super Zeit. Egal, ob man die in der Kreisliga oder in der Bundesliga verbracht hat. Die Realität sieht oft anders aus. Dass uns die Spieler bereits frühzeitig auf diesem Weg verloren gehen, ist genauso dramatisch wie die zu geringe Anzahl an Spitzenspielern. Deshalb steht der Begriff Freude bei unserem Konzept ganz oben. Gutes Kinder- und Jugendtraining benötigt Freude, Intensität und Wiederholungen.

Das Ziel lautet demnach, das freie Spiel, das im Alltag mehr und mehr wegfällt, im organisierten Sport zu simulieren, um darüber einen ähnlichen Effekt zu erzielen?

Wolf: Wir bieten Spielvariationen an, die unterschiedliche und wichtige Fähigkeiten schulen. Wenn Trainer und Trainerinnen schnelles Umschalten organisieren und coachen, sind die Spielformen sogar etwas besser als der Bolzplatz.

Gerland: Grundsätzlich gilt: Alles, was dir Spaß macht, machst du irgendwann auch gut. Fußball hat mir Spaß gemacht. Und damit meine ich nicht die stundenlangen Läufe durch den Wald, bei dem wir die Bäume zählen mussten. Sondern das Spiel mit dem Ball. Ich bin überzeugt: Wenn damals mehr technische Übungen im Training vorgekommen wären, wäre ich ein deutlich besserer Kicker geworden. Was bringt den Spaß im Fußball? Zweikämpfe, Dribblings, Abschlüsse. Und das Beste ist: Wenn du Freude hast, merkst du die Anstrengung gar nicht.

Wenn du im Training auf zwei Feldern vier gegen vier spielst, hat jedes Kind 200-Mal den Ball. Bei acht gegen acht auf einem Feld nur 50-Mal. Was macht da wohl mehr Spaß?

Hannes Wolf

Herr Gerland, Sie hatten eine Karriere als Bundesligaspieler, waren danach als Trainer und Co-Trainer erfolgreich. Woher rührt Ihre Motivation, die Basisarbeit zu verbessern?

Gerland: Ich mag den Fußball einfach gern. Manchmal schaue ich meinen Enkeln beim Kicken zu. Und dann sehe ich die Trainingsformen und denke mir: Warum kopieren die jungen Trainer jetzt Spielformen von Pep Guardiola? Das ist einfach nicht richtig, auch wenn sie das in der Ausbildung vielleicht mitbekommen haben. Ich spreche aus Erfahrung. Mich rufen heute noch Menschen an, die Jahrgang 1967 sind und damals bei mir Jugendtraining hatten. Dann sagen sie: "Hermann, das hat Spaß gemacht bei dir." Ich möchte helfen.

Wolf: Hermann gibt unserer Initiative ein Gesicht, das glaubhaft ist. Er hat mit den besten Spielern Deutschlands in der Jugend des FC Bayern zusammengearbeitet und danach mit den Besten der Welt. Er weiß, dass es bei der Entwicklung auf Ballkontakte ankommt. Und es ist doch im Prinzip ganz einfach: Wenn du im Training auf zwei Feldern vier gegen vier spielst, hat jedes Kind 200-Mal den Ball. Bei acht gegen acht auf einem Feld nur 50-Mal. Was macht da wohl mehr Spaß? Und was ist effektiver? Rechnen Sie das mal auf 10, 100 oder 1000 Einheiten hoch. Welcher Spieler ist am Ende wohl besser? Das Problem aber ist, dass unsere Trainingskultur nicht darauf angelegt ist, auf mehr als einem Feld gleichzeitig zu spielen. Da müssen wir ran.

Die Grundidee klingt stimmig. Aber: Ego-Spieler, die den Ball im Sieben-gegen-sieben nicht abgeben, spielen ihn auch im Vier-gegen-vier nicht ab. Wie gewährleisten Sie in Ihrem Konzept, dass dennoch alle Spieler häufiger an den Ball kommen?

Wolf: Indem wir Variationen anbieten. Wenn du etwa Tore nur direkt schießen darfst, musst du einen Pass spielen. Wenn du hinten nur mit zwei Kontakten spielen darfst, vorne aber freies Spiel ist, lernst du über Passspiel das Spiel zu beschleunigen, um dann ins Dribbling zu kommen. Wichtig ist, dass du das Dribbling nicht rausnimmst aus deinem Training. Der Dribbler kann lernen, den Ball abzuspielen. Aber wenn du ihm das Dribbling abgewöhnst, läuft etwas gravierend falsch. Dann dürfen wir uns nicht wundern, dass es im deutschen Profi-Fußball kaum noch Dribbler gibt.

Gerland: Ich behaupte, ich habe von allen Personen, die an diesem Gespräch teilnehmen, die meisten Fußballspiele gesehen. Ich gehe auch heute noch so oft wie möglich zum Platz. Und was höre ich da heute von den Trainern: "Passen! Passen! Passen!" oder "Schieben! Schieben! Schieben!". Ich höre nie: "Dribbel! Dribbel! Dribbel!" Damit verhinderst du Kreativität. Glauben Sie, dass Stan Libuda oder Willi Lippens den Ball früher im Training abgespielt haben? Oder Pierre Littbarski oder Thomas Häßler? Nein, haben sie nicht. Deshalb wurden sie ja so gut. Und was wollen wir denn sehen, wenn wir ins Stadion gehen? Doch nicht, dass die Innenverteidiger und der Torwart sich 30-mal den Ball hin- und herpassen. Wir wollen den Ball auf die Außen sehen, das Dribbling nach innen, den Schuss in den Winkel. Wir Trainer sind dafür da, den Leuten ein Spektakel zu bieten, nicht, sie zu ermüden durch ewiges Ballgeschiebe.

Herr Balitsch, Sie haben am Vorabend unseres Gesprächs eine E-Jugend entsprechend Ihrem Konzept trainiert. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Balitsch: Zunächst einmal: Auch ich habe die Ego-Dribbler damals verflucht - überspitzt formuliert. Denn ich war am Ende derjenige, der ihnen die Bälle wieder zurückholen musste. (lacht) Für Kinder- und Jugendspieler sind das freie Dribbling, das Gestalten und das Gegnerüberwinden viel schwerer anzueignen als sauberes Passspiel. Deshalb ist es auch einfacher, aus einem Ego-Spieler später einen Mannschaftsspieler zu machen - etwa indem du das Passspiel im Training durch doppelte Wertung der Treffer belohnst - als andersherum. Du darfst im Jugendbereich nicht nur übers Passen gehen, wie wir das in den vergangenen Jahren fast schon exzessiv gemacht haben. Wir haben viel zu viele Rondos spielen lassen und Themen wie Zweikampfführung, Dribbling und Abschluss darüber vernachlässigt. Auch das hat seine Ursache im Profibereich.

Das müssen Sie erklären.

Balitsch: Zu meiner Zeit als Profi war es gang und gäbe, in Spielformen vom Eins-gegen-eins bis zum Drei-gegen-drei zu spielen. Das ist auch entscheidend im Kinder- und Jugendtraining. Es geht um das Erlernen elementarer Fähigkeiten, die wichtig sind fürs Spiel. Das von Ihnen angesprochene Training haben wir komplett in Drei-gegen-drei-Varianten durchgeführt. Wir dürfen nicht vergessen: Du trainierst in diesen Spielformen nicht nur das Dribbling, sondern auch das Verteidigen.

Wolf: Wir haben über diese Übungen auch mit Defensivspezialisten gesprochen. Mit Christian Wörns etwa oder Sven Bender, die ja auch zum Trainerstab der U-Nationalmannschaften gehören. Von ihnen haben wir die Rückmeldung bekommen, dass in den Einheiten genau die Dinge enthalten sind, die ihnen damals geholfen haben, so gut in ihrem Bereich zu werden: direkte Duelle im entscheidenden Bereich vor dem Tor.

Ihre Trainingsempfehlungen sind niedrigschwellig gehalten: Das Video ist frei zugänglich. Warum?

Balitsch: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In den Vereinen meiner Söhne lautet die Philosophie, dass bis zur D-Jugend nur Mütter und Väter trainieren sollen. Diese Mütter und Väter machen das nach bestem Wissen und Gewissen, das ist wirklich sensationell. Wir wollen ihnen die Möglichkeit geben, Input für ihre Trainings zu bekommen.

Wolf: Wichtig ist, dass wir wegkommen vom bislang üblichen Sieben-gegen-vier oder Acht-gegen-acht, weg vom gruppentaktischen Training. Wir wollen mit unserem Konzept alle Fähigkeiten spielerisch erlernbar machen, für alle Positionen. Von zirka 60 Elementen, die wichtig sind für das Spiel, sind 53 in unseren Spielformen enthalten. Unterrepräsentiert sind beispielsweise Flugbälle, Flanken und Kopfbälle. Deshalb gibt es in den Muster-Einheiten auch zeitlichen Raum, um diese Dinge zu trainieren. Wichtig ist: Die Rezeptur muss stimmen, um eine ganzheitliche Entwicklung zu ermöglichen.

Köln-Coach Baumgart kehrt zurück zum Kopfballpendel

Gerland: Und ich sagen Ihnen: Zu diesem Rezept kann auch das gute, alte Kopfballpendel zählen, auch wenn man das Kopfballspiel altersgerecht und verantwortungsvoll integrieren muss. Ich habe vor Kurzem mit Steffen Baumgart gesprochen. Er sagte zu mir: Hör mal, Hermann, ich habe jetzt ein Kopfballpendel bestellt.

Wolf: Entscheidend ist dabei die Spielzeit pro Kind. Das Ziel lautet: 16 mal vier Minuten pro Kind pro Woche - von dieser Zeit sind wir aktuell sehr weit entfernt. Um das zu erreichen, darf das Warm-up nicht länger als maximal 15 Minuten dauern. Und du musst auf mehreren Feldern spielen lassen.

Wenn ich in der D-Jugend eine Mannschaft allein anleite: Wie gelingt es mir dann, auf mehreren Feldern gleichzeitig zu trainieren?

Balitsch: Indem der Aufbau und die eigene Positionierung zwischen den Feldern stimmen. Du darfst zum Beispiel nicht mit dem Rücken zu einem der Felder stehen, sondern seitlich, um beides im Blick zu haben. Das muss man als Jugendtrainer vielleicht zehnmal üben, aber dann funktioniert es. Durch die Spielformen ist es ja zunächst gewährleistet, dass die Kinder freies Spiel entwickeln. Je länger man so trainiert, je häufiger man die Kinder dabei beobachtet, desto mehr Feinheiten fallen auf, desto besser kann man als Coach Hilfestellungen geben. Man wächst mit der Aufgabe.

Und wenn das Spielfeld nicht reicht? Viele Vereine teilen sich ihre Plätze, da hat eine E- oder D-Jugend häufig nur ein Drittel der eigentlichen Spielfläche.

Gerland: Es ist doch überhaupt kein Problem, die Felder enger zu machen. Ein Problem ist, wenn man nach Ausreden sucht, warum etwas nicht geht. Die findet man nämlich immer. Wir müssen eins im Hinterkopf haben: Bei gleichem Talent ist immer derjenige besser, der mehr Trainingsminuten in den Beinen hat. Übung macht den Meister. Und Übung muss Spaß machen. Dem müssen wir alles unterordnen. Denn wenn die Kinder keine Freude beim Training entwickeln, dann sind sie weg. Verloren für den Fußball. Weil sie sich dann aus dem riesigen Angebot, das es heute an Freizeitmöglichkeiten gibt, etwas anderes suchen, das ihnen mehr Spaß macht. Das Ziel muss doch sein, die Einheiten so zu gestalten, dass die Kinder morgens in der Schule sitzen und es kaum erwarten können, zum Training zu kommen.

Denken wir in Deutschland zu kompliziert?

Wolf: Das ist ein wichtiger Punkt. Auf vielen Ebenen. Sehen Sie: Es wird jeden Tag über Fußball in den Medien berichtet. In unterschiedlichster Weise, oft auch sehr komplex, wenn es um Taktik oder Profi-Trainings geht. Aber der Kern des Spiels ist simpel: Es ist ein einfaches Spiel mit einfachen Regeln und einfacher Sprache. Wir brauchen einen Ball, wir brauchen ein Feld, wir brauchen etwas, das wir als Tore benutzen können. Wir brauchen keine 5000 Hütchen. Wir müssen wieder dahin kommen, dass die Trainer das Selbstvertrauen entwickeln, auf diese Einfachheit zu bauen. Das ist nicht immer leicht, weil du immer jemanden findest, der es verkomplizieren möchte. Seien es Eltern oder Jugendleiter. Die fragen dann: Warum wird keine Taktik trainiert? Oder warum werden keine Rondos gespielt? Wenn du dann als Trainer sagst: Ich habe das von Hermann Gerland, gebt mir ein bisschen Zeit. Dann wird man nach zehn Trainings feststellen, dass die Kinder nichts anderes mehr machen wollen. Und dass sie besser werden. Es ist essenziell, dass wir an der Basis der Trainingsarbeit zurück zur Einfachheit kommen.

Gerland: Ein Beispiel aus meiner Zeit beim FC Bayern: Vor jedem Spiel haben wir Abschlüsse nach Flanken geübt. Ohne Gegenspieler. Es ging nur darum, den Ball bestmöglich mit dem Kopf oder dem Fuß aufs Tor zu bringen, um Manuel Neuer zu überwinden. Robert Lewandowski und Thomas Müller haben dabei immer gewonnen. Ich habe Trainingseinheiten gesehen, da standen fünf Stürmer und drei Abwehrspieler in der Mitte. Jeder von den Angreifern hat bei dieser Übung in 25 Minuten vielleicht dreimal den Ball vernünftig getroffen. Da erklärt es sich doch von selbst, welche Trainingsform vernünftiger ist. Man muss den Fußball nicht verkomplizieren. Es kommt auf Wiederholungen an, auf Spielzeit, auf den Spaß.

Kinder wollen Tore schießen - wie erklärt sich da eigentlich der Mittelstürmernotstand?

Wolf: Es gab zwei Entwicklungen im Training, die "Taktisierung" und die "Rondoisierung". Da ergeben sich jeweils keine klassischen Situationen für Mittelstürmer und übrigens auch nicht für Flügelstürmer und Außenverteidiger. Genau da setzen unsere Übungsformen an: wirklich alle Positionen abzubilden.

Wenn wir in der A-Jugend des SV Waldhof unter der Woche wussten, wer überhaupt unser nächster Gegner ist, wussten wir viel.

Hanno Balitsch

Die Logik ist bestechend. Wie konnte es denn dann überhaupt zu den genannten Fehlentwicklungen kommen?

Wolf: 2010 gab es im Juniorenbereich noch keine Video-Analyse des Gegners. Auch die eigenen Einheiten wurden noch nicht gefilmt. Erst danach sind die Mechanismen des Profifußballs herübergeschwappt in den Nachwuchsbereich. Die Folge: Es wurde auf einmal Taktik trainiert mit Blick auf den nächsten Gegner und rein aufs Ergebnis. Aber genau das ist auf Dauer Gift. Die "Rondoisierung" hielt Einzug mit der Orientierung an berühmten Profitrainern. Deren Übungen sind auf Youtube frei zugänglich. Aber: Ein gutes Nachwuchstraining muss andere Schwerpunkte setzen als ein Profitraining.

Balitsch: Wenn wir in der A-Jugend des SV Waldhof unter der Woche wussten, wer überhaupt unser nächster Gegner ist, wussten wir viel. Es ging im Training allein um uns, um unser Spiel, um unsere Entwicklung. Dann haben wir uns am Wochenende mit dem Gegner gemessen. Heute ist im Nachwuchsbereich alles professioneller - aber nach Profi-Maßstäben, nicht im Sinne der Entwicklung.

Wolf: Ähnlich verhält es sich übrigens mit der Belastungssteuerung. Einem Profi reichen vielleicht 16 bis 20 Minuten vier gegen vier. Aber für einen D- oder C-Jugendlichen ist es schlecht, wenn er so wenig spielt.

Aber bleibt die Bedeutung eines sauberen, gut getimten Passes nicht immens hoch?

Gerland: Ganz klar, das bestreitet auch niemand. Aber: Passen ist etwas schwieriger als Geradeauslaufen. Das kann man jederzeit lernen. Wir sagen: Die komplizierteren individuellen Fähigkeiten müssen früher intensiver geschult werden.

Wolf: Wir wollen das Passspiel nicht wegnehmen aus dem Training. Doch das nimmt bei einer Einheit von eineinhalb Stunden vielleicht zehn Minuten ein. Und dann: total intensiv, mit voller Konzentration, jeder Ball top, viel riskieren, ideale Positionierung, Fußspitze anziehen, beim Pass ausatmen - Peter Hermann zum Beispiel coacht bei Passübungen jede Aktion, ihm ist das heilig. Wichtig bei Kindern: lieber zu zweit oder dritt ein Ball - nicht zu fünft. Sonst werden die Kontakte automatisch immer weniger.

Im Rahmen des "Projekt Zukunft" wird schon lange über eine Reform der Junioren-Bundesligen diskutiert, in denen es dann womöglich keine Absteiger mehr geben soll. Wäre das sinnvoll?

Balitsch: Es wäre an dieser Stelle sinnvoll, ja. Aber das wird auf einer sportpolitischen Ebene entschieden und ist nicht unsere Baustelle als DFB-Trainer.

Jamial Musiala hat gesagt, er sei froh, dass er in England ausgebildet wurde - weil das Ergebnis nicht das Wichtigste war.

Herrmann Gerland

Wolf: Wir wurden mit dem BVB in der B- und A-Jugend dreimal Deutscher Meister, wobei nur zwei Spieler alle drei Finals gespielt haben - weil die Spieler sich individuell entwickelt haben, sie die Power, Qualität, Intensität und Persönlichkeit hatten, diese Spiele zu ziehen. Du wirst auf keinen Fall aufgrund der Taktik Deutscher Meister. Die Wahrscheinlichkeit, erfolgreich zu sein, wird deutlich größer, wenn du die Spieler entwickelst.

Aber gehört das Aushalten von Druck nicht auch zur Entwicklung? Stichwort: Abstiegskampf.

Wolf: In den Junioren-Bundesligen befindet sich momentan etwa die Hälfte der Mannschaften im Abstiegskampf. Dieser existenzielle Druck kann nach meinem Empfinden nichts Gutes mit 16- oder 17-Jährigen und mit den Trainingsinhalten machen. Wettbewerb brauchen und wollen wir trotzdem immer und überall. In jedem Drei-gegen-drei willst du gewinnen. Das steht außer Frage.

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Jamal Musiala: Seine unglaublichen Anfänge - und wohin sein Weg führen kann

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Gerland: Jamial Musiala hat gesagt, er sei froh, dass er in England ausgebildet wurde - weil das Ergebnis nicht das Wichtigste war. Natürlich wollten sie gewinnen, aber es war keine Katastrophe, wenn sie verloren haben. Sie sollten nach vorne spielen, dribbeln, sich weiterentwickeln. Das empfindet er auch rückblickend als sinnvoll.

Balitsch: Und die Übungen, die wir jetzt forcieren, haben zu seiner Entwicklung beigetragen. Die funktionieren übrigens auch auf Top-Niveau, wie viele Gespräche bestätigen. Hansi Flick ließ schon beim FC Bayern so trainieren, Edin Terzic beim BVB oder Frank Schmidt in Heidenheim.

Wolf: Das Beste an den Übungen: Jeder kann seinen persönlichen Stil und seine Stärken dabei entwickeln. Wir wollen ja nicht ausschließlich Musialas ausbilden. Ich hatte Christian Pulisic und Amos Pieper in einer Mannschaft. Christian hat gegen Amos gedribbelt - und auch Amos ist Stammspieler in der Bundesliga geworden. Die Spielformen helfen also auch demjenigen, der über die Zweikämpfe kommt. Gute Stürmer und gute Verteidiger - das ist doch genau das, was wir uns alle wünschen.

Thiemo Müller, Interview: Thomas Böker, Matthias Dersch und Thiemo Müller