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Kahn und Carlo: Die erste Frage nach dem WM-Finale 2002

Erinnerungen des kicker-Reporters

Kahn und Carlo: Die erste Frage nach dem WM-Finale 2002

Pure Enttäuschung: Oliver Kahn nach dem verlorenen WM-Finale gegen Brasilien.

Pure Enttäuschung: Oliver Kahn nach dem verlorenen WM-Finale gegen Brasilien. imago/HJS

Würde er tatsächlich kommen? Würde er sich der Presse stellen, der nationalen, der internationalen? Würde er der Welt erklären, wie ihm dieser Patzer passieren konnte? Oder würde er lieber schweigen? Sich verdrücken? Seine Enttäuschung und Traurigkeit in sich vergraben und allein zu verarbeiten versuchen?

Das Finale der Weltmeisterschaft 2002 ist gespielt. Die deutsche Nationalmannschaft hat gegen Brasilien mit 0:2 verloren. Es ist der 30. Juni 2002, Yokohama, Japan. Vor dem ersten Gegentreffer war Oliver Kahn das Unvorstellbare, das Unfassbare passiert: Rivaldo, Regisseur der Selecao, hatte aus 18 Metern halblinker Position einen Flachschuss abgesandt, ziemlich auf die Tormitte, wo DFB-Keeper Kahn den Ball an seine Brust grapschte, dann aber die Greifarme nicht flink genug zuschnappen ließ, sodass der Ball zurück ins Feld prallte.

Kahn bohrte sich mit den Fußspitzen in den Boden, stemmte seine 91 Kilo hoch, krabbelte nach schräg links, spannte seinen Oberkörper auf - doch alles Verrenken half nichts: Ronaldo, Brasiliens Mittelstürmer, war, weil aufrecht, schneller, vier, fünf Schritte vom Elfmeterpunkt aus; locker konnte er den Ball an Kahns Finger- und Handschuhspitzen vorbei ins Netz schieben. 1:0 für Brasilien (67.). Das 2:0 zwölf Minuten später war nur noch eine Fußnote in der Fußballgeschichte, die Brasilien als globalen Champion und Deutschland als Zweiten dieses World Cup 2002 listet.

Kommt Kahn zum Interview? Und wie wird er antworten?

Kahn ist Kapitän des deutschen Teams und muss nun mitansehen, wie die Gegner jubeln und bejubelt werden. Cafu, die blaue brasilianische Spielführerbinde am linken Oberarm, steht auf einer 1,50 Meter hohen Säule und reckt den Goldpokal in die Nacht, eingehüllt von Kunstnebel und Konfettiregen. Kahn hatte nach dem Abpfiff lange auf dem Rasen gehockt, mit dem Rücken gegen den Torpfosten gelehnt. Mitspieler wollten ihn hochziehen, Thomas Linke, Christoph Metzelder; auch der italienische Schiedsrichter Pierluigi Collina. Mittlerweile hat Kahn, ganz Sportsmann, den Gegnern gratuliert und sich als erster deutscher Akteur in die Kabine geflüchtet.

Das machen die deutschen WM-Finalisten von 2002 heute

Auch wir Medienleute begeben uns bald in den Stadionbauch. Es sind noch eilends Interviews zu führen, Meinungsäußerungen der Spieler einzuholen. Sieger tun sich da leichter, the winner takes it all. Doch die Verlierer? Die Mixed-Zone, jener Bereich, wo nach Fußballspielen die Fragen an die Spieler und Protagonisten gestellt und die Antworten, mal füllig, mal karg, mal gar nicht, gegeben werden, ist im International Stadium in der Erinnerung ein schmaler, langer Korridor, fensterlos, weißgraue Betonwände. Die Journaille aus aller Welt wartet. Hauptdarsteller werden bei einer WM oder EM gesondert präsentiert. Also dieses Mal Ronaldo als zweimaliger Finalknipser sowie mit acht Toren bester Schütze des Turniers. Plus eben Kahn?

Wir stehen herum und tratschen. Die deutschen Journalisten sind ziemlich weit vorne postiert, sie haben eine Art Heimspiel. Warten auf Kahn. Nicht auf Godot. Auf Kahn. Und der kommt plötzlich aus dem Hintergrund. Nimmt Platz. Ist es ein Hocker wie in einer Bar? Ein Stuhl? Das Gedächtnis streikt. Vor Augen ist sofort das Bild des kleinen und des Ringfingers seiner rechten Hand, mit einem weißen Verband umwickelt und aneinandergebunden, nach oben gestreckt. Die bange Frage: Wie ist Kahn drauf? Wie wird er auf Fragen nach jener Szene reagieren?

Das "Du" bleibt - und Kahn antwortet rational

Momente, Timeline, Lesestücke

Da macht der FIFA-Pressebeauftragte Andreas Werz, ein Schweizer, jenseits der Absperrung ein paar Schritte in Richtung des Pressepulks. Er hat ein Mikrofon und drückt es ohne jede Vorankündigung dem kicker-Reporter in die rechte Hand: „Da, nimm! Stell du die erste Frage, du kennst Kahn am besten.“ Ein kurzer Blick der totalen Verblüffung. Danke für die Blumen. Wäre nicht nötig gewesen. Ein schockartiger Schweißausbruch. Kahn und ich, wir kennen uns seit über acht Jahren. Während der vier langen Wochen, die dieses WM-Turnier dauerte, haben wir mehrmals telefoniert, sogar noch am Abend vor dem Finale, ganz kurz. Nur eine Terminabsprache. Und vor allem viel Glück morgen. Doch jetzt die erste Frage...?! Vor so vielen Leuten. Oh, oh.

Am besten möglichst einfühlsam anfangen! Also bleiben wir beim seit Langem üblichen Du. Siezen würde jetzt, in dieser vertrackten Konstellation, befremdlich wirken. Es geht um Vertrauen. Also nicht gleich mit dem fatalen Fehler starten. "Oliver, nach dem Schlusspfiff hast du lange am Torpfosten gehockt. Was ging dir da durch den Kopf?" Kahn antwortet rational, professionell. "Wenn man ein Endspiel verliert, ist man immer niedergeschlagen. Das ist doch klar."

Es war mein einziger Fehler in sieben Spielen, der wurde bestraft. Das ist zehnfach bitter.

Oliver Kahn

Der Anfang ist gemacht, eine Gesprächsbasis geschaffen. Also weiter auf der menschlichen Schiene. Der Verweis auf Teamchef Rudi Völler und die Mitspieler, die Kahn nach dem Spielende aufrichten wollten. "Kann das überhaupt jemand?" Unmöglich, nein, sagt Kahn: "Da gibt es keinen Trost. Ich selbst muss mit diesem Fehler leben. Dadurch ist alles nichts. Es war mein einziger Fehler in sieben Spielen, der wurde bestraft. Das ist zehnfach bitter."

"Kann ein Mann allein Weltmeister werden?", titelte der kicker

Kahn hatte in sechs WM-Partien zuvor einen einzigen Treffer zugelassen, beim 1:1 gegen Irland überwand ihn Robbie Keane in der Nachspielzeit. Gegen Saudi-Arabien (8:0), Kamerun (2:0), Paraguay (1:0), die USA (1:0) und Südkorea (1:0) hatte der deutsche Keeper kein Tor gestattet, zum Teil überragend bis übermenschlich gehalten, so dass der kicker titelte: "Kann ein Mann allein Weltmeister werden?" Kahn wurde in diesen WM-Wochen zum Titan. Zum Riesen in Torwartgestalt. Und dann dieses Missgeschick...

Er selbst hat nun in seiner zweiten Antwort diesen Fehler angesprochen. Die Bahn ist frei, um direkt zu werden. Doch bleiben wir sensibel. Anekdoten, kleine Erlebnisse und Details, persönliche Mitteilungen bereichern den Journalismus immer. Also der Hinweis auf Collinas gut gemeinte Worte. "Es gibt in solch einer Situation keinen Trost", wiederholt Kahn, "da kann man erzählen, was man will."

Wir haben den deutschen Fußball da hingebracht, wo er hingehört. Das kann dieses verlorene Endspiel nicht verändern.

Oliver Kahn

Ein fragender Blick nach rechts und links, nach hinten. Möchte einer das Mikro und versuchen, mehr aus Kahn herauszuholen? Keine Reaktion. Dann eben weiter: Lag’s vielleicht an der Fingerverletzung, dem Bänderriss, den er sich eine Viertelstunde vor dem 0:1 zugezogen hatte bei einer Abwehraktion gegen Gilberto Silva? Kahn braucht keine Erklärung, keine Entschuldigung: "Das hat damit gar nichts zu tun."

Allmählich drängt die Zeit, das Gesamtwerk dieser WM erfordert noch eine Würdigung des Kapitäns. Was bleibt für den Zweiten? "Es wäre ein absoluter Witz, wenn jetzt alles Scheiße wäre. Wir sind Vize-Weltmeister. Wir haben den deutschen Fußball da hingebracht, wo er hingehört. Das kann dieses verlorene Endspiel nicht verändern."

"Hast du mich das alles gefragt?" - Kahn und die Erinnerungen an die WM 18 Jahre später

Die erste Frage gibt es noch einmal - knapp 18 Jahre danach. Kahn steht hoch über dem von gelb-violettem Licht bestrahlten Rasen der leeren Allianz-Arena und sagt: "Hast du mich das alles gefragt?" Seine Erinnerung ist arg verblasst. "Gedanklich war ich damals in einer anderen Welt, nur nicht im Hier und Jetzt", sagt er. Eigentlich hätte er sich "lieber weggebeamt", er sah es aber als seine professionelle und menschliche Pflicht an, sich mitzuteilen. Jedes andere Verhalten "wäre extrem negativ gekommen".

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Jenen Patzer und die verpatzte WM-Titelchance hat er längst verarbeitet. "Mit dieser Geschichte bin ich schon ewig im Reinen", sagt Kahn. Bei so vielen gewonnenen Trophäen "macht es für mich keinen so großen Unterschied, ob da eine fehlt". Sein Image wäre selbst mit weltmeisterlichen Ehren kein anderes, meint Kahn. "Manchmal bin ich sogar der Meinung, es war gut so, dass es damals so kam, es hat mich geerdet." Kahn definiert sein Leben nicht über seine Großtaten im Fußballtor. "Man kann sich grämen, ein oder zwei Jahre lang", sagt er mit der Reife von 50 Lebensjahren und nun als Vorstand des FC Bayern, "aber das Leben besteht anschließend aus so vielen Herausforderungen und Facetten." Es geht eben weiter, immer weiter.

Ob das Mikrofon in jener Nacht von Yokohama sonst noch jemand übernahm? Keine Ahnung. In Erinnerung blieb der Dank eines Kollegen, dass der kicker-Reporter Kahn "so feinfühlig" so viele Antworten entlockt hatte.

Dieser Text erschien erstmals im kicker-Sonderheft zum 100-jährigen kicker-Jubiläum.

Karlheinz Wild

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