Als Termin für das Treffen mit dem kicker an seinem Wohnort München hat Felix Magath den 1. Mai ausgewählt, den Tag der Arbeit. Purer Zufall oder doch ein wenig Symbolik? Der Torschütze von Athen und HSV-Held für die Ewigkeit wird damit durchaus einem Klischee gerecht. Im Gespräch über die große Zeit der Hamburger und die Gegenwart aber öffnet er nicht nur seinen Schatz an Erinnerungen, sondern auch sich. Und er verrät, dass ihn der Sieg mit Hertha BSC in der Relegation des Vorjahres gegen seine große Liebe persönlich auch ein bisschen geschmerzt hat. Genauso wie drei gescheiterte Anläufe, ihn zurückzuholen.
Herr Magath, erst kürzlich waren Sie anlässlich des bevorstehenden Jubiläums mit einem Fernsehteam des NDR und den damaligen Weggefährten Bernd Wehmeyer und Manfred Kaltz auf Erinnerungstour in Athen. Werden Sie 40 Jahre danach zu solchen Anlässen sentimental?
Ich habe meine Rolle ganz bewusst in allen Jahren im Fußball immer als Profi im besten Sinne gesehen und auch so interpretiert, aber der HSV war für mich etwas Besonderes, die Zeit und der Verein haben mich als Fußballer und Persönlichkeit geprägt. Deshalb war diese Reise jetzt für mich schon sehr berührend.
Das Finale in Athen
Nehmen Sie uns mit auf jene Reise, die Sie berührt?
Die Landung in Athen war noch einigermaßen normal, es hätte auch jeder andere Flughafen sein können. Aber als wir dann zum Hotel Interconti sind, kamen sofort die Erinnerungen hoch. Bernd Wehmeyer, Manni Kaltz und ich haben uns alle drei richtiggehend in die Zeit zurückversetzt gefühlt. So ging es dann weiter, als wir zum Stadion fuhren, das jetzt zwar größer, aber grundsätzlich noch das Bauwerk von damals ist. Manni wusste sogar sofort, wo unsere Kabinen waren, das hat schon besondere Emotionen ausgelöst.
Sie waren schon mit dem HSV als Spieler und mit dem VfB Stuttgart als Trainer zuvor wieder an der Stätte des großen Triumphes. Waren da weniger Emotionen?
Ja, das war nicht mit jetzt vergleichbar. Die beiden Male war ich als Profi in Athen, ich war viel zu fokussiert auf die jeweilige Aufgabe, als dass ich in Erinnerungen hätte schwelgen können.
Und wie konkret sind Ihre Erinnerungen an jenen 25. Mai 1983?
Die sind lebendig, natürlich vergisst man einen solchen Tag nicht. Salopp gesagt war Juventus die italienische Weltmeistermannschaft von 1982 plus Zbigniew Boniek und Michel Platini, sie waren das, was Real Madrid oder Manchester City im europäischen Fußball heute sind - und wir sind vor dem Spiel erst mal auf den Golfplatz gefahren. An dem waren wir auch jetzt wieder mit dem Fernsehteam.
Er hat uns reden lassen, während minütlich Flugzeuge mit italienischer Flagge über unseren Köpfen eingeflogen sind.
Felix Magath über Ernst Happel
Der legendäre Ort, an dem Ernst Happel mit Ihnen und anderen erfahrenen Spielern die Taktik besprochen hat.
Ja, er hat Uli Stein, Ditmar Jakobs, Manni Kaltz, Horst Hrubesch und mich beiseitegenommen, aber eigentlich haben fast nur wir Spieler gesprochen. Happel hat ja nicht geredet, auch dort fast nicht. Er hat uns reden lassen, während minütlich Flugzeuge mit italienischer Flagge über unseren Köpfen eingeflogen sind. Ich glaube, das war seine ganz bewusste Herangehensweise.

Geschlagene Legende: Weltmeister Dino Zoff nach dem Magath-Schuss. imago images/Horstmüller
Weshalb?
Das ist schwer zu beantworten. Es ist eines der großen Geheimnisse, ich kann es Ihnen nicht wirklich sagen. Sein Ansatz war: Wer weniger redet, der sieht mehr und nimmt mehr wahr. Wer viel redet, ist auch viel mit sich beschäftigt.
Der damalige Manager Günter Netzer hat gesagt, Happel habe der Mannschaft vermittelt, was er wollte, ohne mit ihr gesprochen zu haben.
Und das ist völlig korrekt ausgedrückt. Es war sensationell, unglaublich. Ich sitze heute noch manchmal da und denke darüber nach.
Was denken Sie dann?
Ich denke, er wollte von uns Spielern, dass wir mitdenken. Branko Zebec zuvor war auf eine gewisse Weise ähnlich. Der hat zwar gesprochen, aber nicht viel. Er stand während der Trainingseinheiten auf dem Platz, und wenn man an ihm vorbeigelaufen ist, hat er immer mal den Fuß rausgestellt. (lacht) Der Effekt: Man musste als Spieler immer konzentriert und immer wach sein.
Hat Sie diese Herangehensweise für Ihre Trainerkarriere geprägt?
Ja, weniger zu sprechen und genauer hinzuschauen, das habe ich für mich übernommen. Ich bin davon überzeugt, dass es Spieler und Mannschaften weiterbringt, wenn sie sich mit den Anforderungen an sie auch gedanklich auseinandersetzen. Sie müssen schließlich auch auf dem Platz spontan Entscheidungen treffen und Lösungen finden. Es geht nicht primär darum, dass man den Spielern immer alles erklärt. Jeder von uns aus der erfolgreichen 83er Mannschaft, der Ernst Happel erlebt hat, der weiß, dass ein Trainer nicht ständig mit den Spielern sprechen muss. Wissen Sie, wie eine Taktikbesprechung mit Happel vor einem Spiel war? Erzählen Sie!
Er hatte die Brille auf seine Nasenspitze geschoben und schaute darüber auf sein Büchlein, das er aufgeschlagen vor sich liegen hatte, und sagte: Meine Herren, heute spielen wir auf, hin und her! Fragen? Danke. Sie lachen? Aber so war der Meistertrainer Ernst Happel. Sein Erfolg und auch der von Branko Zebec basierte nicht darauf, dass sie Spieler mit Informationen überfrachtet haben, sondern darauf, dass sie uns zum Mitdenken erzogen haben. Happel konnte führen, ohne ein Wort zu sagen. Hat sich der Fußball zu sehr verändert für diese Art von Führung?
Es geht heute für viele Trainer mehr darum, Ruhe zu haben und beliebt zu sein, als Erfolg zu haben. So habe ich diesen Job allerdings nie verstanden.
Felix Magath
Der Mensch hat sich nicht so sehr verändert, aber die Umstände um den Fußball. Der Fußball hat sich vom Sport zum Geschäft und oftmals zur Show entwickelt. Es ist sehr viel mehr Geld im Umlauf, durch die Einflüsse von Spielerberatern und die dadurch gestiegene Macht der Spieler gibt es immer weniger Trainer, die sich trauen, mit den Spielern klar und konsequent umzugehen. Es geht heute für viele Trainer mehr darum, Ruhe zu haben und beliebt zu sein, als Erfolg zu haben. So habe ich diesen Job allerdings nie verstanden.
Weshalb eigentlich nicht?
Bei mir stand und steht der maximale Erfolg der Mannschaft im Vordergrund. Es klingt vielleicht klischeebehaftet, aber ich denke: Wenn die Spieler sagen, der Trainer sei gut, dann muss man etwas aufpassen.

Mai 2023: Felix Magath im Volksparkstadion - der Schal erinnert an den großen Sieg. IMAGO/MIS
Weshalb?
Die meisten Menschen bringen nicht von sich aus Höchstleistungen. Deswegen muss man als Trainer die allermeisten Athleten immer wieder fordern und antreiben. Das steigert nicht immer die Beliebtheitswerte.
War Happel beliebt? Konnte er nahbar sein?
Er war ein Welttrainer und bei uns in der Mannschaft geachtet und respektiert. Was ungewöhnlich war und ein Trainer ja eigentlich eher nach erfolgreichem Ende der Saison machen sollte: Er hat mit uns Spielern Karten gespielt, zum Beispiel auf den Busfahrten zu Auswärtsspielen. Er hat dann bei uns gesessen, die ganze Fahrt über geraucht, immer die belgische Marke Belga, aber er hat auch da kaum geredet.
Wie auf dem Golfplatz von Athen ...
... genau. Da haben wir Spieler alle geredet und er am wenigsten. Aber er hat damit auch Vertrauen vermittelt und mit dafür gesorgt, dass wir nicht eingeschüchtert waren von den großen Juve-Stars.
Was war noch entscheidend?
Horst Hrubesch.
Weshalb?
Horst hatte vor nichts Angst. Als Spieler und Typ ist er total vorneweg gegangen, war unheimlich wertvoll. Das unterscheidet uns zum Beispiel. Ich würde von mir sagen, dass ich eher ein zurückhaltender Mensch bin.
Tatsächlich?
Ja. Ich weiß, was ich im Fußball kann. Aber außerhalb davon bin ich erst mal eher ein skeptischer Mensch.
Schon nach neun Minuten waren Sie wenig zurückhaltend ...
Ich bin keiner, der sich frühere Spiele noch 100-mal anschaut, aber in meiner Wahrnehmung war es so, dass wir von Beginn an die Initiative ergriffen haben und mutig waren. Juventus hatte außergewöhnliche Spieler, sie waren technisch besser. Aber mutig zu sein und vorn draufzugehen war auch etwas, was Happel nach der schon sehr erfolgreichen Zebec-Ära bei uns reingebracht hat.
So viel Platz hatte ich gar nicht, aber ich hatte Glück, dass in der Szene Bettega vor mir war.
Magath über DAS Tor - und dass ein Stürmer ihn verteidigte
Über Ihr Tor haben Sie damals gesagt, in der Bundesliga hätten Sie nicht so viel Platz ...
... als Spieler habe ich viel erzählt.
Wie war es denn?
So viel Platz hatte ich gar nicht, aber ich hatte Glück, dass in der Szene Bettega vor mir war. Ich dachte im Spiel eigentlich, es sei Tardelli gewesen, der zumeist gegen mich stand. Aber in der Szene war es eben Bettega, ein Stürmer, der nicht so gut verteidigen konnte. Er ist auf meine Finte eingegangen und hat sich weg- gedreht. Das wäre mit einem Abwehrspieler vor mir vielleicht nicht gelungen.
Es gibt abweichende Erzählungen über die Nacht von Athen. Wurde nun gefeiert oder Rücksicht auf den Bundesliga-Endspurt genommen?
Was denken Sie denn? Natürlich haben wir gefeiert. Das Bewusstsein zum Thema Alkohol war noch nicht so groß wie heute, auch zum Rauchen nicht. Wir hatten einige Raucher, nicht nur den Trainer. Aber es ist schon so gewesen, dass auch ein kleines bisschen Zurückhaltung im Hinterkopf war, weil wir unbedingt noch Meister werden wollten.
Sie waren später Bayern-Trainer. Hatte der HSV dieser Zeit die viel zitierte "Mia san mia"-Mentalität?
Ja, wir hatten dieses "Mia san mia". Uli Stein war so ehrgeizig, der ist nach Gegentoren oder Fehlern Mitspielern an den Kragen gegangen, dazu Kaltz, Jakobs, Hrubesch. Wir hatten so viele Spieler, die nicht nur nicht verlieren, sondern gewinnen wollten. Immer.
War Ihnen in der Nacht von Athen schon bewusst, dass Sie Geschichte geschrieben haben?
Ich habe so nicht gedacht. Aber ich hatte einfach den Anspruch an mich, in so einem besonderen Moment dann auch eine Top-Leistung zu bringen.
Das klingt deutlich weniger emotional als Ihre Zeitreise zu Beginn des Gesprächs.
Ich will gar nicht rational klingen, sondern bin natürlich dankbar für diesen Moment. Aber dass wir Geschichte geschrieben haben, haben wir erst später wirklich gespürt. Es liegt eben auch an dem, was beim HSV danach kam, oder treffender, was eben nicht mehr kam. Und wenn ich sage, ich habe damals nicht daran gedacht, Geschichte geschrieben zu haben, dann liegt das auch in der damaligen Zeit begründet. Wir wurden als die Könige Europas betitelt, und so haben wir es auch empfunden. Wir dachten: Wieso sollte es jetzt schlechter werden, warum sollen wir den Pokal nächstes Jahr nicht wieder gewinnen?
Wieso wurde es schlechter?
Wir dachten, es geht immer so weiter, wir hatten ja schließlich Ernst Happel, den vermeintlich besten Trainer. Aber gibt es eigentlich den Besten?
Können Sie es erklären?
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Otto Rehhagel. Ich weiß, wie ich immer gearbeitet habe und damit erfolgreich war, er aber hat ganz und gar anders gearbeitet, und er war auch erfolgreich. Otto ist mit Griechenland Europameister geworden! Das geht eigentlich nicht. Aber er hat es geschafft. Das zeigt, dass es so verschiedene Wege gibt. Der HSV hat damals den Weg gewählt, für Hrubesch und Lars Bastrup Dieter Schatzschneider und Wolfram Wuttke zu holen, also vermeintlich ideale positionsgetreue Wechsel, dazu bedeutete das eine Verjüngung. Aber es bedeutete auch einen Knackpunkt, weil es charakterlich nicht passte, weil es im Fußball eben nicht immer nur um die individuellen Fähigkeiten geht. Sondern auch um Mentalität, um Gruppendynamik. Ich habe das damals als Spieler nicht realisiert, sondern erst später, als ich selbst Trainer war.
Sie haben im Jahr 1995 Ihre Trainerkarriere beim Hamburger SV gestartet und wären 2007 und 2014 zweimal fast zurückgekehrt. Weshalb hat es nicht geklappt?
Es gab, bevor der HSV 2017 Heribert Bruchhagen als Vorstandsvorsitzenden verpflichtet hat, auch noch einen dritten Anlauf bei mir. Es gab jeweils Personen, die mich holen wollten, 2007 zum Beispiel der damalige Aufsichtsratsboss Udo Bandow, aber es gab leider auch immer Personen, die ihre eigenen Interessen über die des HSV gestellt haben, um ihre eigene Position nicht zu gefährden.

Die anderen jubeln: Magath nach der 2022 überstandenen Relegation mit Hertha - gegen den HSV. picture alliance/dpa/Revierfoto
Ist das eine offene Wunde?
Es schmerzt, natürlich. Dreimal wurde ich von HSV-Verantwortlichen angesprochen, und ich habe dreimal meine Bereitschaft erklärt zu helfen. Und dreimal wurde anders entschieden. Am Ende stand der Abstieg, und der HSV ist bis heute nur noch zweitklassig.
Vor einem Jahr haben Sie mit Hertha BSC in der Relegation verhindert, dass der HSV wieder hochkommt. Tat Ihnen auch das weh?
Wir sind damit wieder beim Ausgangspunkt unseres Gesprächs. Ich bin Profi, und wenn ich für einen Verein arbeite, dann tue ich auch alles für diesen Verein.
War es das vielfach betitelte Duell Kopf gegen Herz?
Ja, klar. Ich kritisiere ja immer die Spieler, die sich mit der Hand aufs Wappen klopfen, aber der HSV ist mein Verein, und ich kann ehrlich sagen: Ich habe im letzten Jahr meinen Job gemacht. Aber ich konnte mich nicht richtig freuen.
Das Interview erschien zuerst in der kicker-Ausgabe Nr. 40 am 15. Mai 2023.