Joachim Löw fuhr in Sachen Aufstellung mit keiner Überraschung vor dem EM-Auftakt gegen die Ukraine auf: Der Bundestrainer ersetzte den nach Muskelfaserriss noch nicht ganz fitten Hummels mit Mustafi, außerdem standen neben Abwehr-Boss Boateng die Außenverteidiger Höwedes und Hector in der Viererkette. Davor bildeten Kroos und Khedira das Sechser-Gespann, die offensive Dreierreihe bestand aus Müller, Özil und Draxler. Götze startete im Angriffszentrum, der formstarke Gomez (Torschützenkönig in der Türkei) musste mit der Bank Vorlieb nehmen.
Warum sich Löw gegen eine Dreierreihe und für eine Viererkette entschied, mag auch an den zwei Waffen von Mykhaylo Fomenko liegen. Denn die Aushängeschilder im Kader des ukrainischen Trainers sind Konoplyanka von Europa-League-Sieger Sevilla und Yarmolenko (Dynamo Kiew), die abschlussstarken Zielspieler bei den Gelb-Blauen. "Die beiden geben das Spiel der Ukraine vor, offensiv und defensiv", sagt zum Beispiel DFB-Assistenztrainer Marcus Sorg.
Neuer rettet
Das sollte sich direkt bewahrheiten: Kurz nachdem Draxler die erste Torannäherung des Spiels generierte (3.), hämmerte Konoplyanka unter den Augen von Boxer Vitali Klitschko nach einem Mustafi-Fehler aus 16 Metern drauf und zwang Neuer zu einer ersten starken Parade (5.). In der Folge verflachte das Geschehen etwas, zudem schlichen sich einige Fehler ein: Boateng spielte zum Beispiel zwei äußerst ungenaue Bälle.
Mustafi rechtfertigt seine Berufung
Erst in der 19. Minute geschah wieder etwas - und gleich etwas Großes: Kroos schlug einen Freistoß aus dem rechten Halbfeld perfekt und scharf ins Zentrum zu Mustafi, der sich in der Luft top behauptete und hart in den linken oberen Winkel einnickte. 1:0 für Deutschland, die EM fing gut an für Löw & Co. - und vor allem für Mustafi selbst: Für den Profi des FC Valencia war es gleich bei seinem ersten EM-Spiel der Karriere das erste Tor. Dieses Kunststück gelang für den DFB zuletzt Torsten Frings beim 1:1 gegen die Niederlande 2004.
Gruppe C - 1. Spieltag
Neuer und Pyatov sind zur Stelle
Die Antwort der Ukraine auf den Rückstand? Beinahe das 1:1! Doch erneut war Neuer meisterhaft zur Stelle, nachdem der Torhüter des FC Bayern einen Kopfball von Khacheridi mit der rechten Hand abwehrte und somit zum zweiten Mal Deutschland vor einem Gegentor bewahrte (27.). Auf der anderen Seite tauchte Khedira urplötzlich nach einem Zuckerpass von Kroos frei vor Pyatov auf, doch der Juve-Akteur feuerte das Leder nach guter Verarbeitung zu zentral auf den ukrainischen Torwart (29.).
Was für eine Sportart betreibt Boateng?
Verzweifelte mit seinen Kollegen mehrmals an Neuer & Co.: Ukraines Aushängeschild Andriy Yarmolenko. Getty Images
Was nicht außer Acht gelassen werden konnte: Immer wieder deuteten die Gelb-Blauen Gefahr an - trotz der optischen Überlegenheit und des weit höheren Ballbesitzes der DFB-Elf (teils über 70 Prozent). Beispiel gefällig: In der 37. Minute chippte Yarmolenko das Leder elegant an die linke Fünfmeterraumkante, wo Konoplyanka angerauscht kam und den Ball Richtung Tor drückte. Was dann geschah, rief Staunen hervor: Boateng sprang der Ball vom Oberschenkel Richtung eigenes Gehäuse, doch der Abwehrchef setzte im Straucheln nach und spitzelte die Kugel unter voller Körperbeherrschung kurz vor der Torlinie im Fallen mit der Pike weg vom Tor, ehe er selbst ins Netz und auf den Boden krachte. Eine grandiose Rettungstat (37.). Wenig später lag der Ball trotzdem im Tor, doch Schütze Yarmolenko hatte zuvor im Abseits gestanden (39.). Dann war erst einmal Durchschnaufen angesagt, Schiedsrichter Martin Atkinson pfiff zur Pause.
Kroos trifft die Latte
Den besseren Start in die zweiten 45 Minuten erwischte Deutschland. Nach einer gefühlt minutenlangen und beeindruckenden Passstafette, die die Ukrainer immer weiter Richtung eigenen Sechzehner drückte, fasste sich Kroos aus der Distanz ein Herz und touchierte mit seinem saftigen Pfund die Latte. Pyatov hätte keine Chance auf eine Abwehr gehabt (52.). Auf der anderen Seite näherte sich Rakytskyy an, doch Neuer war nach wie vor auf Betriebstemperatur und entschärfte den scharfen Freistoß gekonnt (57.). Viel mehr fiel den Ukrainern anschließend nicht mehr ein - und auch Deutschland kam nicht so recht zu Abschlüssen, trotz teils weiterhin guter Kombinationen und ordentlichen Annäherungen (Khedira-Schuss 61., Draxler-Kopfball 68.).
Schweinsteiger macht den Deckel drauf
Umso näher das Spielende heranrückte, umso platter wirkte der Außenseiter. Die Beine von Yarmolenko, Konoplyanka, Stepanenko & Co. trugen nicht mehr wie gewollt. Das führte dazu, dass sich die DFB-Schützlinge oftmals die Bälle hin- und herschoben, den Gegner clever laufen ließen und auf offene Räume in der ukrainischen Defensive lauerten. Ein Abschluss von Joker Schürrle, der den Ball nicht ganz perfekt traf, sprang offensiv dabei heraus (82.). Außerdem enteilte der WM-Held von 2014 (gab damals die Vorlage für Matchwinner Götze) der Abwehr, doch Pyatov passte vor dem heraneilenden Schürrle gut auf (84.).
Verletzung überstanden - und direkt wieder erfolgreich: DFB-Kapitän Bastian Schweinsteiger. Getty Images
Apropos Pyatov: Der Schlussmann hielt seine Nation in der 88. Minute im Spiel, indem er den Abschluss von Özil stark parierte. Das sollte sich beinahe auszahlen, denn nur eine Minute später produzierte Mustafi beinahe ein Eigentor, indem er den Ball über den zu weit vor dem Tor stehenden Kapitän Neuer nickte. Dann schlug die Stunde des etatmäßigen Kapitäns Schweinsteiger, der in der 90. Minute zu einem Kurzeinsatz kam und diesen mit dem 2:0 krönte: Nach einem starken Konter der DFB-Elf über Mustafi und Schürrle nahm der komplett durchgerannte ManUnited-Profi die Flanke von Özil volley und nagelte das Leder zum vielumjubelten 2:0 unter die Latte. Danach folgte ein Jubellauf: Schweinsteiger ließ sich von allen Männern im deutschen Stab beglückwünschen. Wenig später konnten alle zusammen den verdienten 2:0-Sieg feiern.
Zugleich bedeutete dies: Auch bei der zwölften Endrundenteilnahme verliert die DFB-Elf nicht ihr Auftaktspiel (sieben Siege, fünf Unentschieden).
Löws Truppe trifft nun im zweiten Gruppenmatch am Donnerstag (21 Uhr, LIVE! bei kicker.de) in Paris auf das ebenfalls in Spiel eins erfolgreiche Polen. Die Ukraine spielt zuvor (18 Uhr) in Lyon gegen Nordirland im Duell der Unterlegenen Nationen der Staffel C.