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Die Herz-Transplantation: Wenn Zehner zu Sechsern werden

Von Pirlo über Kroos bis hin zu Kamada

Die Herz-Transplantation: Wenn Zehner zu Sechsern werden

Sie rückten nach und nach nach hinten: Robert Andrich, Michael Ballack und Toni Kroos (v.li.).

Sie rückten nach und nach nach hinten: Robert Andrich, Michael Ballack und Toni Kroos (v.li.). IMAGO/eu-images

Wenn man genau darüber nachdenkt, ist der im Zusammenhang mit Spielmachern oft gebrauchte Begriff des Regisseurs nicht ganz korrekt. Denn Regie sollten doch die Trainer führen. Weil deren Einfluss während einer Partie aber begrenzt ist, gibt es - zum Glück - die Gestalter, die Freigeister, die dann vom Drehbuch abweichen dürfen, wenn es spontan wird auf dem Platz. Und - wieder zum Glück - ganz oft ist tatsächlich eben nicht vorhersehbar, was passiert.

Improvisationskunst ist gefragt, eigentlich überall auf dem Feld, aber gerade in dieser Rolle hinter der Spitze, den Spitzen oder hinter niemandem, wenn sich ein falscher Neuner herumtreiben darf, wo er will. Und so wurden auf dieser Position, der Zehn, einst die Großen, die Größten geschaffen. Diego Maradona, Lionel Messi, Michel Platini, Zico, Kaka, Zidane, Gheorghe Haghi. Um nur eine kleine Auswahl zu nennen.

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Aber auch an den schnellen Haken, den frischen Ideen und dem Spielwitz eines Wolfgang Overath, Thomas Häßler oder Mehmet Scholl durften wir uns hierzulande ergötzen. Auch wörtlich, bei der WM 2014. Straßenkicker also, Zauberer, Bolzplatzkinder, von denen es heute tatsächlich nicht mehr so viele gibt. Man freut sich über jeden Tag, jedes Spiel, in dem ein Jamal Musiala, der auch Zehner, Achter oder sogar sehr offensiver Sechser spielen kann, nicht in ein taktisches Korsett gezwängt wird.

All die genannten Heroen von früher aber eint, dass sie eben Zehner waren. Und blieben. Weil es da noch Zehner gab.

Die zentrale Achse eint die Sechser und Zehner

Die existieren in einem 4-2-3-1 zum Beispiel natürlich immer noch. Aber selten so große. Mittlerweile haben sich viele Zehner in Sechser verwandelt. Sei es, weil ihre Stelle aus dem Taktikschema wegrationalisiert wurde oder weil sie aus freien Stücken lieber aus der Tiefe des Raumes agieren wollen.

So ganz neu ist das nicht, nur haben wir es vor rund 25 Jahren etwas anders erlebt. Erinnern Sie sich noch, was die meistdiskutierte Frage vor der WM 1998 war im deutschen Fan-Lager? Spielt Lothar Matthäus nun Libero oder doch Olaf Thon? Der eine war zuvor in seiner Karriere in seiner besten Zeit ein dynamischer Weltklasse-Achter, der andere ein filigraner Dirigent, ein Zehner. Doch dann zogen sie sich immer weiter zurück. Bis sie schließlich Libero wurden.

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Ein Libero als Teil einer verkappten Viererkette, nur eben ein paar Meter dahinter verortet, weil man sich die originäre Variante in Deutschland erst Jahre später anzuwenden traute. Zwei Jahre vorher, 1996, war Matthias Sammer der Prototyp des Liberos, aber ob seines Offensivdrangs auf dem Weg zum EM-Titel 1996 oft vor der Abwehr zu finden. Ein halber Sechser, wenn man so will.

Was jedoch einen "letzten Mann", einen Ausputzer, einen Sechser oder einen Zehner eint, ist die Achse, auf der sie spielen: zentral von einem Tor zum anderen. Sie agieren mittig, haben alles gut im Blick. Der Sechser natürlich noch besser als der Zehner.

Was einen Top-Sechser ausmacht

Ein Zehner verteilt Bälle, ein Sechser auch. Ein Zehner lenkt sein Umfeld, gibt auch mal Pressingauslöser verbal oder mimisch bekannt, ein Sechser auch. Ein Zehner muss etwas ausstrahlen, ein Sechser auch. Aber wie steht’s mit der Geschwindigkeit?

Manche laufen überall rum, schaffen 13 Kilometer. Ein Busquets aber läuft zehn und steht immer richtig.

Thomas Broich

"Man verliert nicht die Ausdauer, aber Topspeed", sagt Thomas Broich. Der heutige TV-Experte und Leiter Methodik im NLZ von Hertha BSC war selbst Zehner, spielte auch mal Sechser, kam aber zum Ende seiner Karriere bei Brisbane Roar gerne über die linke Seite. Doch er weiß, wie es sich im Zentrum anfühlt, da, wo das Spiel pulsiert. Und ergänzt daher: "Die Sechs ist wohl die einzige Position im Fußball, auf der du keine maximale Geschwindigkeit brauchst." Natürlich, räumt er ein, müsse ein Sechser viele Kilometer machen, doch hier trennt sich die Spreu vom Weizen: "Manche laufen überall rum, schaffen 13 Kilometer. Ein Busquets aber läuft zehn und steht immer richtig."

Dieses Stellungsspiel, dieses Antizipieren, dieses Lesen des Spiels ist es, was einen Top-Sechser ausmacht und ihn im heutigen Fußball auf ein noch höheres Niveau hebt. Und weil manche der Sechser eben mal Zehner waren, wissen sie auch, wie ihre Gegner in dem Raum, in dem sie oft sind, wenn sie positionstreu agieren, ticken. Wenn da überhaupt noch einer ist. Eher sind es ja Achter.

Andrea Pirlo

Ein Meister seines Fachs im zentralen Mittelfeld: Andrea Pirlo. Getty Images

Die Zehner sterben nicht aus - sie heißen nur anders

Und so ist es auch die folgende Aufzählung von Spielern bestenfalls eine Auswahl. Alle waren mal irgendwann Zehner, oft auch Achter. Aber erst mal vom Typ her offensiv denkend, ehe sie das wurden, was man früher einen "Staubsauger vor der Abwehr" nannte, was aber der Charakteristik dieser Position längst nicht mehr auch nur ansatzweise gerecht wird: Ander Herrera, Cesc Fabregas, Andrea Pirlo, David Jarolim, Frank Lampard, Ivan Rakitic, Lewis Holtby, Maximilian Arnold, Michael Ballack, Pascal Groß, Steven Gerrard, Toni Kroos, Vladimir Darida, Yaya Touré, Luka Modric, Maxi Eggestein, Kevin Kampl, Robert Andrich, Kerem Demirbay oder Daichi Kamada oder …

Broich sieht zwei Vorteile darin, dass mittlerweile das Herz des Spiels durch eine Transplantation von der Zehn rund 20 Meter zurück auf die Sechs verpflanzt wurde: "Man sieht viel mehr Bälle, hat das Spiel öfter vor sich. Und natürlich bekommt man auch Gegenwehr, ist aber nicht so maximal im Druck wie ein Zehner."

Die Magier wie Maradona gibt’s heute noch selten. Deswegen klingen schon ein paar Töne in Moll im Hintergrund dieses Textes. Diese Wehmut wird aber gelindert, wenn man sich zum Beispiel anschaut, wie Manchester Citys Rodrigo, der zwar kein Zehner war, aber diese Position ob seiner Fähigkeiten ebenso ausfüllen könnte, als derzeit bester Sechser der Welt agiert, wie wunderbar er diese Rolle interpretiert. Doch eine Zehn gibt’s in der Welt von Pep Guardiola nicht. Weil seine beiden Achter aber ohnehin überall sind und sein sollen, sterben die Zehner nicht wirklich aus. Sie heißen nur anders. Manchmal auch Sechser. Ganz, wie der Regisseur es will.

Thomas Böker

Vom Bolzplatz zum Meister-Macher: Musialas Weg in die Weltspitze

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