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"Working Class Hero": Die außergewöhnliche Geschichte des Kalvin Phillips

Sein Vater sitzt im Gefängnis, seine Mutter hungerte für ihn

"Working Class Hero": Die außergewöhnliche Geschichte des Kalvin Phillips

Top bei den Three Lions, Kult in Leeds: Kalvin Phillips.

Top bei den Three Lions, Kult in Leeds: Kalvin Phillips. imago images/picture alliance

Die englischen Nationalspieler wollten es ganz genau wissen. Murderball - was ist das eigentlich? Die Story hatte sich offenbar schon herumgesprochen in der Premier-League-Szene.

Kalvin Phillips erzählte es ihnen, damals, bei seiner ersten Nationalelf-Nominierung im August 2020. Jeden Mittwoch stehe bei Leeds United eine Spielform auf der Trainingsliste, die Trainer Marcelo Bielsa als "Fußball" bezeichnet. "Aber wir Spieler nennen es Murderball", sagte Phillips "Sky Sports". Dabei wird fünf Minuten lang bei vollem Tempo gekickt. Verlässt der Ball das Feld, wird sofort ein neuer hereingeworfen. Das eigentlich "Mörderische" daran: Fouls werden nicht geahndet. "Die konnten sich das gar nicht vorstellen", so Phillips über die verdutzten Gesichter bei den Three Lions. "Ehe man das nicht mal selbst gemacht hat, kann man gar nicht verstehen, wie intensiv und hart das ist."

Phillips spielt gerne Murderball. Intensiv, hart, beißen, kämpfen - das passt einfach zu ihm. Das kennt er von Kindesbeinen an.

Es ist die klassische "Vom Tellerwäscher zum Millionär"-Story, die dieser Sohn eines jamaikanischen Vaters und einer irischen Mutter zu erzählen hat. In einem Interview mit der englischen "Times" sprach er im November 2020 erstaunlich offen über die Details.

Wie er in einem Haus  mit seinen drei Geschwistern aufwuchs, wo es nicht genügend Betten für alle gab. "Meine Mutter musste auf dem Sofa schlafen." 

Wie er in der Schule Gratis-Mahlzeiten in Anspruch nehmen musste, weil seine Familie nicht genug Geld für Essen hatte. "Andere Kinder brachten Lunchpakete und Schokoriegel mit. Sie haben mich ausgelacht wegen der Gratisessen." Genauso wie Marcus Rashford hat Phillips dem Hunger den Kampf angesagt. Er unterstützt inzwischen die Organisation "food bank", die sich um hungernde Menschen auf der Insel kümmert.

Wie seine Mutter abends nichts zu sich nahm, weil sonst die Kinder hätten hungern müssen. "Meine Mutter hatte zwei Jobs, um uns ernähren zu können. Und meine Oma hat für das Essen auch noch etwas beigesteuert."

Und wie er seinen Vater erlebte, oder besser: nicht erlebte. "Er kam ins Gefängnis, dann war er wieder draußen. Er hatte einen schlechten Umgang. Drogen, Schlägereien - alles, was einem so einfällt." Immer wieder sei er zur Familie zurückgekehrt, doch dann sei das Ganze wieder von vorne losgegangen. Aktuell sitzt sein Vater im "HM Prison Wealstun" in Leeds ein. "Ich fahre jeden Morgen an ihm vorbei. Ein paar Mal war ich dort, aber ich gehe nicht gern dorthin, weil ich es nicht mag, ihn im Gefängnis zu sehen. Lieber telefoniere ich mit ihm."

"Marching on together" von einem Häftlingschor

So auch nach dem Aufstieg von Leeds im Sommer 2020. Sein Vater, ein glühender Fan der Whites, platzte natürlich vor Stolz. "Als ich den Hörer abnahm, sagte er: 'Hör dir das mal an'. Alle Insassen, die auf einen Anruf warteten, sangen die Leeds-Vereinshymne 'Marching on together' und schlugen dabei gegen die Wände", erinnert sich Phillips Junior.

Dass Kalvin all diesen widrigen Umständen trotzte und es mit eiserner Disziplin zum Fußballprofi brachte, sagt so ziemlich alles aus über seinen Charakter. In englischen Medien wird er gerne als "Working Class Hero" bezeichnet und Leeds als "Kalvin Phillips Land". An einer Hausfassade in der Stadt ist er in Übergröße an die Wand gemalt worden, sein Stellenwert für die Arbeiterstadt unermesslich. Über 200 Spiele hat der 25-Jährige für Leeds bereits absolviert.

In bester Gesellschaft: Kalvin Phillips mit den Leeds-Legenden Albert Johanneson (li.) und Lucas Radebe.

In bester Gesellschaft: Kalvin Phillips mit den Leeds-Legenden Albert Johanneson (li.) und Lucas Radebe. picture alliance

Den Rohdiamant geschliffen hat "El Loco" Bielsa, dieser fußballverrückte Charismatiker. Als der Argentinier im Sommer 2018 bei Leeds übernahm, erkannte er schnell Phillips' Potenzial und teilte ihm nach einer Weile zwei Dinge mit. Erstens: Du bist ab jetzt nicht mehr offensiver, sondern defensiver Mittelfeldspieler. Zweitens: Du nimmst ab.

Phillips weiß, was er Bielsa zu verdanken hat. Sein erstes Nationalmannschaftstrikot werde er dem Coach schenken, kündigte er vor seinem England-Debüt gegen Dänemark im September 2020 an. Der hatte ihm zuvor ein Trikot von sich aus seiner Zeit bei den Newell's Old Boys geschenkt und ihn und seine Familie beglückwünscht.

Seine Freundin fand Phillips als Elfjähriger

Womit man wieder beim Wichtigsten im Phillips' Leben wäre: der Familie. Am Vatertag wird nicht der Vater gefeiert, sondern - genauso wie natürlich am Muttertag - die Mutter. Phillips hat eine Freundin namens Behan. Er lernte sie im Alter von elf Jahren kennen, seitdem sind sie ein Paar. Seinen Ehrgeiz bezog er aus dem Ansporn, seine Familie aus der Armut zu holen, "deswegen habe ich mich immer weiter gepusht", verriet er dem "Mirror".

Selbst seine Oma Val erreichte bei den Leeds-Fans einen gewissen Kultstatus, nachdem sie in einer Vereinsdoku vorgekommen war. Sie erfuhr als eine der ersten von seiner Nominierung. "Er sagte, er habe gute Neuigkeiten. Ich fragte ihn, ob er heiraten oder Vater werden würde. Als er mir sagte, dass Gareth Southgate angerufen hatte - oh mein Gott, ich konnte es nicht glauben!" Im Februar 2021 verstarb seine Großmutter, was Phillips sehr bewegte. "Ohne dich wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin", schrieb er danach in den sozialen Medien.

Wo Phillips jetzt ist, das ist so weit oben wie noch nie in seiner Karriere. Bei der EM stand er als Sechser in jedem Spiel in der Startelf. 52 Kilometer hat er schon abgespult, nur elf Spieler liefen mehr bei diesem Turnier, bei dem er im Normalfall ja gar nicht dabei gewesen wäre. Phillips hatte ja noch nicht mal ein Premier-League-Spiel absolviert beim ursprünglichen Austragungszeitpunkt im Sommer 2020.

Gegen Kroatien schlägt der "Yorkshire Pirlo" zu

Die Hände zum Himmel: Kalvin Phillips denkt bei seinen Toren an die verstorbene Schwester.

Die Hände zum Himmel: Kalvin Phillips denkt bei seinen Toren an die verstorbene Schwester. Getty Images

Doch in der einjährigen Verzögerung wegen der Pandemie spielte er sich in der Premier League weiter in den Vordergrund, Southgate kam nicht mehr an ihm vorbei. Gleich im Auftaktspiel gegen Kroatien zeigte er all seine Qualitäten, erkannte eine Lücke im Mittelfeld, ließ einen Gegenspieler aussteigen und passte punktgenau in die Schnittstelle, wo Raheem Sterling stand und traf. Die Szene zeigt recht anschaulich, warum er auch der "Yorkshire Pirlo" genannt wird.

Nur ein Treffer ist Phillips bei der EM noch nicht gelungen. Würde er eines schießen, könnte man beobachten, wie er ein Tattoo auf seinem Arm küsst und danach in den Himmel blickt. Als Phillips am 2. Dezember 1995 auf die Welt kam, brachte seine Mutter noch zwei Schwestern mit auf die Welt. Eine davon, Lacreasha, starb nach wenigen Monaten. Phillips gedenkt ihrer mit dieser Geste bei jedem Tor, das er erzielt.

Christoph Laskowski