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Anti-Romantiker und sturer Musterschüler: Das ist Erik ten Hag

Manchester Uniteds neuer Trainer

Anti-Romantiker und sturer Musterschüler: Das ist Erik ten Hag

Erik ten Hag, wie er leibt und lebt: seriös, in einem schicken Anzug gekleidet, klare Anweisungen gebend.

Erik ten Hag, wie er leibt und lebt: seriös, in einem schicken Anzug gekleidet, klare Anweisungen gebend. IMAGO/ANP

Ein "Geisterschiff" habe Erik ten Hag da geentert, titelt "The Guardian". Auf ein wahres "Ungetüm" treffe der 52-Jährige, schreibt "The Athletic". Und "Voetbal Total" nennt es gar ein "fast unmögliches Abenteuer", auf das sich der Ex-Ajax-Trainer da eingelassen habe.

Nein. Ten Hag ist nicht der Hauptdarsteller eines bevorstehenden Action-Films. Vielmehr hat der Niederländer eine nicht minder anspruchsvolle Herausforderung angenommen: die des Cheftrainers von Manchester United. Mittlerweile eine Herkules-Aufgabe, um die ihn wohl auch ein Tom Cruise nicht beneiden dürfte.

Warum also traut sich der Coach diesen Job zu, der weiter mit mächtig Prestige einhergeht, an dem aber selbst Namen wie Louis van Gaal oder José Mourinho gescheitert sind? Die Antwort dürfte wohl nur er selbst wissen. Erste Erklärungen lassen sich aber bereits aus seiner Kindheit ableiten.

"... dann ging immer eine Hand nach oben: Eriks."

In der Nähe von Enschede 1970 geboren wächst der Sohn einer Unternehmerfamilie als Fan von Twente auf, fährt samstags häufig auf Schalke und macht sich früh reflektierte Gedanken über Fußball. "Wir waren ungefähr zwölf Jahre alt", erinnert sich sein Kindheitsfreund Clemens Zwijnenberg gegenüber "Voetbal International" an die Zeit in Twentes Nachwuchsmannschaft, "der Trainer gab die Aufstellung bekannt. 'Irgendwelche Fragen?' Dann ging immer eine Hand nach oben: Eriks."

Wenn jeder denkt, Roger Federer ist der beste Tennisspieler der Welt, dann wird Erik ten Hag darauf bestehen, dass es Rafael Nadal ist.

Leon ten Voorde

"Haggie", wie ihn seine Kumpels nennen, sagt seine Meinung, er will anecken, bildet eigene Ansichten. Laut seinem langjährigen Freund Leon ten Voorde weiß der damalige Sturkopf mit der großen Klappe "immer alles besser". Wie der Journalist vielsagend über den späteren Coach für die Zeitung "Tubantia" schreibt: "Wenn jeder denkt, Roger Federer ist der beste Tennisspieler der Welt, dann wird Erik ten Hag darauf bestehen, dass es Rafael Nadal ist."

"So etwas hatte ich noch nie gesehen"

Der Niederländer ist eigenwillig - und geht als Trainer einen eigenwilligen Weg. Nachdem er seine aktive Karriere in der Eredivisie mit 32 Jahren beendet hatte, beginnt er 2006 als Assistent bei Twente. Zunächst für den Ex-Schalke-Coach Fred Rutten, ab 2008 für Steve McClaren. Dieser schildert für "The Athletic" sein erstes Aufeinandertreffen mit dem peniblen ten Hag: "Er holte einen Ordner heraus, mit einem sechswöchigen, aufs kleinste Detail geplanten Vorbereitungsplan, über Trinkpausen bis hin zu cool-downs", so der ehemalige Nationaltrainer Englands. "So etwas hatte ich bis dahin noch nie gesehen und seitdem auch nie mehr."

Die schiere Akribie des Nachwuchstrainers ließ McClaren sogar an sich selbst zweifeln: "Ich dachte, ich kannte mich im Fußball aus. Aber als ich das erlebt habe … Ich wusste nichts über Fußball."

Lernen von Guardiola

Nach Stationen als Co-Trainer in Eindhoven und als Chefcoach in der zweiten niederländischen Liga in Deventer mitsamt Aufstieg zieht es ten Hag 2013 überraschend zur zweiten Mannschaft des FC Bayern - zur selben Zeit, als Pep Guardiola in München anheuert. Der wissbegierige Niederländer ist im ständigen Kontakt mit dem Katalanen, dessen Philosophie wird zu einer Art Blaupause für den ehrgeizigen Reserve-Trainer.

Welchen Einfluss der heutige ManCity-Coach auf ten Hag hatte, zeigt sich auch, als dieser 2015 den niederländischen Erstligisten FC Utrecht übernimmt und im Training auf Guardiola-eske Methoden setzt. "Er hat ständig das Training angehalten", schreibt Utrechts Innenverteidiger Willem Janssen bei "The Guardian". "Du hattest gerade Spaß, und auf einmal hat Erik mal wieder gepfiffen und dir gesagt, dass du falsch stehst. Aber er hat dir auch erklärt, warum. Und dann dachtest du: 'Verdammt, er hat recht.'"

Er ist nicht einer dieser Romantiker, die wir hier lieben. Er will lieber gewinnen.

Willem Janssen

Trotzdem läuft es in Utrecht zunächst holprig. Der eigensinnige Coach weicht vom in den Niederlanden fast schon heiligen 4-3-3 ab, möchte meist lieber mit zwei Spitzen spielen und bleibt wie so oft auch in Zeiten von Misserfolg seiner Linie rigoros treu. "Er ist nicht einer dieser Romantiker, die wir hier lieben", beschreibt Willems seinen ehemaligen Trainer, "er will lieber gewinnen."

Und das tut er zusehends. In seiner ersten Saison wird er mit Utrecht Fünfter, ein Jahr später verbessert sich die Mannschaft nochmals um einen Platz. Trotz all der augenscheinlich kühlen Ernsthaftigkeit verliert ten Hag aber nicht die emotionale Bindung zu seinen Spielern. "Er weiß, wie man mit Menschen umgeht", erklärt der frühere Utrecht-Profi Ruud Boymans gegenüber "Voetbal International". "Er wusste zum Beispiel, dass ich rauchte. Wenn ich nach einem Spiel als Letzter in den Bus stieg und man den Rauch noch riechen konnte, tippte er mich an und fragte: 'Lecker Zigarette gehabt?' Er hat mich so akzeptiert, wie ich war."

Ära in Amsterdam

Nach zweieinhalb Jahren in Utrecht macht ten Hag 2017 das, was er so häufig in seinem Leben macht: Er geht den nächsten logischen, bedachten und klaren Schritt, in dem Fall zu Ajax Amsterdam. Der Mann mit dem trockenen Humor schreibt eine Erfolgsgeschichte. Drei Meisterschaften und zwei Pokalsiege fährt der Trainer ein, zusätzlich gelingt 2019 der viel zitierte Champions-League-Lauf ins Halbfinale. Ajax spielt modernen, effizienten und unterhaltsamen Ballbesitzfußball. Gleichzeitig setzt ten Hag aber auch auf das in der Heimat so geliebte 4-3-3 und den von Johan Cruyff geprägten "totalen Fußball": Alle verteidigen, alle greifen an.

Ten Hags erster Neuzugang

Etwas Guardiola, etwas Cruyff. Aber vor allem Erik ten Hag. "Du kannst von anderen abschauen und lernen", sagt der seriöse Kahlkopf in einem Interview 2020 über seine Handschrift - und stellt trotzdem klar: "Aber du musst einen eigenen Weg finden, der zu deiner Persönlichkeit passt. Sonst spielst du nur eine Rolle. Und die Spieler werden das durchschauen."

Seinen eigenen Weg hat der Trainer gefunden, seine markante Persönlichkeit war ohnehin schon vorhanden. Ten Hag hat den niederländischen Fußball modernisiert und dabei seine eigene Kultur kreiert. Eine ehrgeizige, disziplinierte und klare Kultur.

Ebendiese Identität soll er auch Manchester United einhauchen, einem seit Jahren richtungs- und anspruchslosen Fußballunternehmen. Wenn das funktioniert, dann könnte der frühere Sturkopf aus Haaksbergen das "Geisterschiff" im Nordwesten Englands bald wieder in ruhigere Gewässer manövrieren.

Leonard Friedl

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