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Calcio für alle: Die besondere Geschichte des CS Lebowski

Über den Verein der Fans in Italiens Amateurklasse

Calcio für alle: Die besondere Geschichte des CS Lebowski

Der Klub und seine Fans: CS Lebowski.

Der Klub und seine Fans: CS Lebowski. CS Lebowski

Die Ultras singen noch immer im Stadion. Das mag an diesem Oktober-Nachmittag an der Herbstsonne liegen oder an Bier und Grappa. Jedenfalls macht der Schlusspfiff ihnen keinen Strich durch den Gesang, das Ergebnis schon gar nicht. Centro Storico Lebowski hat soeben 0:1 gegen Sestese verloren. Bezirksliga in der Peripherie von Florenz, dort, wo man vergeblich nach Touristen fahndet.

Man nimmt’s, wie es kommt, heißt es im Kultfilm der Coen-Brüder "The Big Lebowski" von 1998. Einige der herumschlurfenden Tifosi machen dem "Dude" Jeff Bridges sowie den anderen seltsamen Figuren, gespielt von John Goodman, Steve Buscemi oder John Turturro, alle Ehre. Man ist fast versucht, aus Begeisterung eines der Filmzitate in die Menge zu werfen. Etwa, dass das hier nicht Vietnam ist, sondern Fußball, und da gibt es Regeln. Von Regularien und den Mechanismen des Sports hatte CS Lebowski Anfang des Millenniums die Nase voll.

Borja Valero lehnt vor der Kabine. "Das ist wirklich fantastisch hier. Die Essenz des Fußballs, wie man ihn überall leben sollte. Spaß und Freude pur." Heute ist er 36, früher besuchte er die Jugendschule von Real Madrid, wo er aber nur zu drei Profi-Einsätzen kam, dann Mallorca, West Bromwich, Villarreal, Inter Mailand und AC Florenz, 68-mal spielte Valero im Europapokal und einmal, 2011, für Spanien. In sechs Jahren wurde Florenz für ihn und Familie ein Zuhause, er lebt die Stadt ohne Allüren, die Viola-Fans tauften ihn "il Sindaco", den Bürgermeister.

Valero wollte Florenz helfen - Florenz lehnte ab

Valero wollte bei der Fiorentina noch ein Jahr aushelfen und sich dafür das Gehalt kürzen. Die Chefetage lehnte ab. So ganz ging Valero dann doch nicht. Ein Sommerflirt über die sozialen Netzwerke wurde zur Realität, und er heuerte bei Lebowski an. Der Stadt etwas zurückgeben, eine Plattitüde. Ihm nimmt man das ab.

Die Curva Moana Pozzi 03

Die Curva Moana Pozzi 03 CS Lebowski

Einst Bernabeu und San Siro, nun kleine Plätze rund um Florenz - da grinst er selbst. "Coole Sache, oder? Auch hier spielen elf gegen elf, und unter der Dusche sind alle gleich, ob Madrid oder Bezirksliga." Aber ihm gefalle, "was die Jungs aufgebaut haben. Zurück zu den Wurzeln". Für Kinder würden Profis zum Mythos und zu viel mehr gemacht, als sie seien, findet Valero. Wichtigeren Berufen fehle es derweil an Anerkennung. "Der Fußball hat mir ein sorgenfreies Leben ermöglicht, doch vielleicht hätte ich es auch mit einer anderen Arbeit erreicht." Hier könne er jetzt "stressfrei kicken und genießen und Lebowski und dem sportlichen und sozialen Projekt ein bisschen weiterhelfen".

Das Projekt ist simpel und zugleich revolutionär für Italien: Der Klub gehört den Mitgliedern, Stimmrecht für alle und zum Teufel mit Vereinsbossen. "Gegen den modernen Fußball" klingt oft nach plakativem Kneipengeplauder, CS Lebowski verwandelt Oppositionsgehabe in ein passioniertes Pro. Wenn der Fußball von der Basis driftet, holt ihn sich die Basis wieder zurück. Nimmt sich der Sport mal wieder ernster als nötig, kontern die Revoluzzer mit Selbstironie. Die Fantribüne heißt "Curva Moana Pozzi", benannt nach der im Land bekanntesten Porno-Darstellerin. Ausgerechnet Signora Pozzi? "Ist doch witzig. Außerdem bedeutet es Freiheit, und alle Italiener lieben Moana", behauptet ein Fan.

2004 ging die Reise los - als "AC" Lebowski

Alles begann 2004 mit einer Gruppe junger Leute im Centro Storico, der historischen Altstadt, die der große Fußball durch Kommerz und Fanrestriktionen vergrault hatte. Über Nacht suchten sie sich eine Oase. Am nächsten Wochenende standen sie auf der Tribüne eines Klubs, der damals noch AC Lebowski hieß. "Es war das schlechteste Team der untersten Kreisliga in Florenz und hatte gerade 2:8 gegen den Vorletzten verloren. Am Anfang wählten wir den Klub aus Jux, kamen mit Bengalos und Trommeln an. Die Jungs fühlten sich verarscht und fragten, wer wir denn seien. Wir sagten: Wir sind ab heute eure Ultras - für immer!" erinnert sich Nicolo, einer der Veteranen. Die Saison schloss man gemeinsam mit null Punkten und 99 Gegentoren ab. Das bis heute ungewöhnliche Grau-Schwarz der Trikots war ein zusätzlicher Bonus. Die Wahl fiel auf das damals billigste Farbenset, das der Laden seit Jahren nicht losgeworden war.

Kölsche Grüße in die Toskana

Kölsche Grüße in die Toskana CS Lebowski

Echte Verve kam 2010 ins Vereinsleben, als Stagnation drohte. "Unterstützung im Punk-Modus ist gut, aber ein Zukunftsplan brachte zusätzlich Stimulanz und Spirit in die Sache", erzählt Matthias Moretti, langjähriges Mitglied und eine Art Pressesprecher. Das Amt ist längst notwendig, denn Lebowski machte Schlagzeilen, als der Klub bis 2018 bis in die 6. Liga kletterte. Die Idee blieb gleich: Selbstbestimmung, Trainer werden nicht gefeuert, Auspfeifen der Mannschaft ist streng untersagt, Spieltag heißt Familienfest. Und die Familie wächst, der Klub ist ein beliebter Vertreter des "Calcio Popolare", des Fußballs von unten, spätestens seit der Wandlung in eine Genossenschaft vor drei Jahren.

Uns geht es um puren Calcio und Gemeinschaft.

Matthias Moretti

Fans aus aller Welt halten Anteile, zuletzt kam ein Anhänger aus Neuseeland hinzu. Deutschland ist ebenfalls prominent vertreten. Das ging so: Trifft ein italienischer Erasmus-Student einen Köln-Fan vor der Kneipe … Letztes Jahr feierten Lebowski und die "Coloniacs" zehnjährige Fan-Freundschaft. Die Italiener liefen im rot-weißen Trikot mit dem Aufdruck "Bliev Jeck!" auf. Die Kölner antworteten daheim in der FC-Kurve mit einem enormen Glückwunsch-Banner auf Italienisch. Beide Gruppen besuchen sich regelmäßig, nach der Flut-Tragödie organisierte CS Lebowski eine Spendenaktion für Betroffene.

Zu den Begegnungen kommen rund 800 Leute, das ist mehr als der Besucherschnitt vieler Drittligisten in der Serie C. Sie zelebrieren eine 90-minütige brausende Folklore mit Leuchtfeuer, pausenlosem Anfeuern und Paukenschlag. Pyrotechnik ist vom Verband untersagt. "Doch eine Kurve braucht Farbe", meint Giovanni. "Da haben wir uns nie maßregeln lassen. Wenn der Referee sagte: Dann breche ich ab, entgegneten wir: Verlieren wir eben am grünen Tisch." Einige Dudes haben sich nach Diskussionen mit der Polizei ein Stadionverbot bis Februar abgeholt.

Aus sieben Kindern wurden 160

Wichtig bleiben trotz allem Solidarität und das Vermeiden von Schubladen oder einer Politisierung. "Natürlich sympathisieren viele mit der Linken, doch bei uns ist jeder willkommen. Wir existieren nicht gegen die Fiorentina oder um Links-Politik zu machen. Uns geht es um puren Calcio und Gemeinschaft", sagt Moretti. Freie Stadien, unabhängiger Fußball, unsere Stadt, unser Verein. Aus ein paar Dutzend wurden 980 Mitglieder. Borja Valeros Ankunft schraubte die Zahl auf 1400.

Eine Fußballschule führt der Klub auch. Sieben Kinder waren es vor sieben Jahren. Damals rettete Lebowski mit den Eltern eines Altstadtviertels einen Park, der zum Parkplatz für Luxus-Apartments umfunktioniert werden sollte. "Heute sind wir 120 Jungs und 40 Mädels." Sie sollen Emotionen im Sport kennenlernen, denn Gefühle bleiben für immer. "Minimale Ordnung im Chaos, ohne Geschrei wie ,Verdammt, bleib auf deiner Position!‘", erklärt Jugend-Koordinator Giovanni.

Lebowski ist ein grandioses Projekt für den Calcio und die Stadt. Es zeigt, wie Fußball ohne Habgier und mit intakten Werten der Grundidee auch heute funktionieren kann.

Benedetto Ferrara

Vor ein paar Jahren schlug Lebowski Junior die Fiorentina hochemotional 2:0. Die Viola warb aus Rache zwei Kinder ab. Für Eltern mit überschaubarer Kasse ist die in Italien ansonsten oft teure Fußballschule gratis. Alle helfen Lebowski, und Lebowski hilft. Im September marschierten sie im Trikot bei der Demo für 442 via Mail entlassene Arbeiter einer Motorenfabrik. Zwei davon sind Lebowskis. Das Arbeitsgericht hat die Entlassungen kürzlich als gesetzwidrig annulliert.

"Lebowski ist ein grandioses Projekt für den Calcio und die Stadt. Es zeigt, wie Fußball ohne Habgier und mit intakten Werten der Grundidee auch heute funktionieren kann. Die Sache mit Borja Valero gibt dem Ganzen natürlich einen wunderbar romantischen Teint", sagt Benedetto Ferrara, ein florentinischer Journalist für La Repubblica, der beim Flirt zwischen dem Spanier und Lebowski vermittelte. Freilich bedeutete das Engagement eine Gratwanderung. "Wir wollen keine Mickey-Maus-Mode werden und aus Borja Profit ziehen. Dann wären wir eine groteske Kopie der Sklaven des Business-Fußballs", sagt Moretti.

Das nächste Ziel: Eine feste Heimat

Ein großer Sponsor meldete sich, der Klub denkt nach. Schließlich kostet Lebowski jährlich 230 000 Euro, ganz so einfach lässt sich der Kapitalismus nicht tunneln. Man will aber nur einem Kontrakt ohne Forderungen oder Bestimmungsrecht des Sponsors zustimmen. Bislang decken die Mitglieder die Kosten sowie ein imponierendes Fanartikel-Sortiment - und das vom Klub organisierte Landfest "Sagra del Fritto", das im Sommer rund 4000 Hungrige anlockt.

Curva Moana Pozzi 02

In der Curva Moana Pozzi 02 wird in jeder Form Unterstützung geleistet CS Lebowski

Das nächste Ziel heißt, mit der Jugend, dem Frauenteam und den Männern endlich in einem festen Zuhause zu spielen. Bislang zogen die Abteilungen über die florentinischen Mietplätze, denn nicht jeder goutierte das wöchentliche Spektakel. Bis in die Serie D will man es erst mal schaffen. Wären noch zwei Aufstiege zur höchsten Amateurklasse Italiens.

Danach nehmen, wie es kommt. Borja Valero hat ja noch ein paar Jährchen vor sich. Er habe große Momente erlebt in der Karriere, "aber mit elf in der Real-Schule, da geht dir eine ganze Jugend verloren, das gedankenlose Bolzen, die erste Liebe, Freundschaften". Der Film-Lebowski würde nun einen White Russian ordern. Borja Valero sagt: "War einfach wieder geil heute!" Und fährt heim.

Oliver Birkner