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Chievo - das "Star Trek des Calcio"

Kolumne von Oliver Birkner

Chievo - das "Star Trek des Calcio"


Nun weiß ich nicht, ob Wölfis Wein aus dem Veneto kam, doch genau dorthin hätte ich ihn im Nachhinein gerne einmal eingeladen, nach Verona, der Stadt von Romeo und Julia. Zwar ist das prominente Pärchen für die ansässigen Fußballklubs eher eine Bürde – bei deren Auswärtsspielen hat das Plakat "Julia ist eine Nutte" Tradition - doch kurz vor Verona bewahrheitet sich, dass Katja Ebstein eben doch nicht so falsch lag.

Zwei Gemüseläden, Kirche, eine Pizzeria, ein Brillenladen, eine Apotheke, ein Metzger, ein Zigarettenladen, Friseur, Videothek, Modegeschäft und zwei Bars – mehr gibt es um die Piazza von Chievo nicht. Die 2500-Seelen-Vorstadt Veronas besitzt jedoch auch ein Erstliga-Team das in dieser Saison schnurstracks wieder auf dem Weg in die Serie B schien. Nach 18 Spielen lag Chievo wie erwartet bei nur zehn Punkten auf dem letzten Platz. In der Folge holte man dann 20 Zähler, im Rückrundenklassement belegt man Rang vier.

Der Klassenerhalt wäre das x-te Wunder, so wie der erste Aufstieg in die Serie A 2001, als Gemeindepfarrer don Giovanni die Glocken der Kirche baumeln ließ, allerdings nur elf – "Die Zwölfte ist für Todesfälle", sagte er. Hätte auch schräg geklungen, denn "Ceo", wie die Heimischen den Verein im Dialekt nennen, wurde auf Anhieb Fünfter, ein Mal Vierter, spielte im UEFA-Cup, der Champions-League-Quali, bis es dann 2007 eine Etage tiefer ging und für viele dann doch im Geiste die zwölfte Glocke dröhnte. Nur ein Jahr später gelang die Wiederauferstehung.

Die Spieler von Chievo Verona arbeiten an einem neuen Wunder in ihrem Fußball-Paralleluniversum.

Die Spieler von Chievo Verona arbeiten an einem neuen Wunder in ihrem Fußball-Paralleluniversum. imago

Besucht man ab und zu die Auftritte des einzigen Serie-A-Klubs, der die gesamte Pyramide des Calcio vom Kreisliga-Keller bis in die Beletage durchlaufen hat, befindet man sich in einem Fußball-Paralleluniversum. Chievo ist eine Art Star Trek des Calcio. Bei Auswärtsreisen verteilt man an einem Stand gratis hausgemachte Brötchen und Risotto an die heimischen Anhänger, vor den Heimspielen werden die Gäste-Fans zur Verbrüderung zu Essen und Trinken eingeladen. Am Stadio Bentegodi schlurfen Familien mit Kinderwagen, Omas, Opis, Jugendliche in Richtung Eingang. Ein Ehrenkodex der Kurve lautet, niemals den Gegner zu beleidigen.

"Mal verliert man, mal gewinnt man", sagte mir vor einigen Monaten Giovanni Chieppe, Präsident der Fanklub-Vereinigung Chievos, der problemlos als italienisches Peter-Neururer-Double durchginge. "Fußball ist mehr als ein Spiel, aber hey, oft bekommst du eben auch dort einen Tritt in den Hintern. Soll ich deshalb Molotov-Cocktails basteln?"

Selbst nach dem Manipulationsskandal um Juves Sportdirektor Luciano Moggi und Chievos Abstieg 2007 nach sechs Jahren Serie A waren diese Stoiker nicht zu einer Raserei zu verführen. "Den Abstieg hatten wir unseren schlechten Leistungen zu verdanken – nicht den Juve-Bestechungen", so Giorgino, einer der aktuell rund 8500 Jahreskarteninhaber.

In einem Gespräch mit Oliver Bierhoff, der bei Chievo 2003 seine Karriere beendete, fasste es der Deutsche wie ich fand treffend zusammen: "Der Verein ist eine große, intime Familie. Bei anderen italienischen Klubs in meiner Karriere traf man schon einmal auf einige Tifosi mit Aggressionspotenzial. Bei Chievo hingegen triffst du die Hausfrau, die es einfach toll findet, ihr Team zu begleiten. Und wenn die Saison schlecht läuft, sagt sie ,Na dann eben im nächsten Jahr!’ Sieg und Niederlage haben keine lebenswichtige Bedeutung."

Geführt wird die Familie von Luca Campedelli, der als 23-Jähriger vom verstorbenen Vater Verein und die Weihnachtskuchen-Firma Paluani übernahm. Campedelli sieht aus wie Harry Potter, ist glühender Fan von Inter und der Premier League und ein Geizkragen. In Chievo investiert er bedächtig, denn vom Papa nahm er mit: "Mach keinen Schritt, der länger als dein Bein ist, sonst frisst der Ball den Weihnachtskuchen." Auch deshalb ist jede Erstliga-Saison wie ein kleiner Scudetto.

"Chievo spielt erst in der Serie A, wenn Esel fliegen können", spotteten die Anhänger vom Ortsnachbarn Hellas Verona lange Jahre. Die Jungs von Hellas sind derzeit Neunter in Liga drei und über ihnen fliegen die Esel – in einer wundersamen Galaxie gar nicht so weit entfernt.

Oliver Birkner lebte bereits von 1993 bis 1999 in Bologna. Nach seiner Zeit beim kicker in Deutschland (2004 - 2007) entschloss er sich aus Nostalgie wieder auf die Halbinsel zurückzukehren. Nun berichtet er als Korrespondent für kicker Print und Online aus seiner neuen Heimat Florenz.