Handball

Samir Bellahcene bei der Handball-EM: Der Spätberufene

Kiels Samir Bellahcene erlebt sein erstes Turnier mit Frankreich

Der Spätberufene

Zwei Trikots, eine Jubelpose: Kiels französischer Nationalkeeper Samir Bellahcene erlebt eine besondere EM.

Zwei Trikots, eine Jubelpose: Kiels französischer Nationalkeeper Samir Bellahcene erlebt eine besondere EM. Sascha Klahn (2)

Aus Berlin berichtet Maximilian Schmidt

Es hätte das perfekte EM-Debüt werden können, nach seiner Einwechslung parierte Samir Bellahcene direkt die ersten beiden Würfe auf sein Tor. Dann sah der französische Nationalkeeper im Spiel gegen die Schweiz auch noch das verwaiste Tor - und traute sich. Der Ball aber sprang vom rechten Innenpfosten zurück ins Feld. Dieser Treffer hätte tatsächlich das am Ende nur Remis endende Vorrundenspiel entscheiden können.

3. Spieltag in Gruppe A

Doch an Bellahcene lag es wahrlich nicht, dass die Franzosen erstmals bei dieser EM Federn ließen. Nach seiner Einwechslung für den schwachen Remi Desbonnet (zwei Paraden bei 15 Würfen aufs Tor) lief der Torhüter sofort heiß, entschärfte insgesamt elf Würfe der Schweizer bei einer 50-prozentigen Fangquote. Speziell aus dem Rückraum war kaum ein Durchkommen gegen Bellahcene - acht der elf Versuche aus neun Metern verwehrte er den Weg ins Tor.

In einem Mischmasch aus Deutsch und Englisch antwortet der fast dauergrinsende Bellahcene in der Mixed Zone der Mercedes-Benz Arena. "Fast hätte ich ein Tor gemacht, aber so ist das Spiel", gesteht der 28-Jährige, der beim Weltrekordspiel in Düsseldorf zum Auftakt noch aus Frankreichs Kader gestrichen worden war. Im Schweiz-Spiel sammelte er genügend Argumente, um gegen Deutschland am Dienstagabend (20.30 Uhr) erneut anstelle von Charles Bolzinger (Montpellier) in den Spieltagskader berufen zu werden.

"Das bekomme ich ja jetzt jede Woche in Kiel mit"

Und Bellahcene hat ohnehin ein Ass im Ärmel: Er ist der einzige Bundesliga-Profi im Kader des amtierenden Olympiasiegers. Das "großartige Gefühl" vom EM-Debüt will er wieder erleben, die "großen Kulissen" sei er aus der Bundesliga mittlerweile gewohnt. "Das bekomme ich ja jetzt jede Woche in Kiel mit." Beim THW, für den er seit September 2023 spielt, ist diese ohnehin noch einmal eine Spur spezieller.

Trotz des Punktverlusts und der dürftigen Leistung gegen die Schweiz gibt sich Bellahcene selbstbewusst. Das "große Spiel" gegen Deutschland wolle Frankreich "natürlich unbedingt gewinnen". Dabei könne er auch keine Rücksicht auf "Freunde wie Rune Dahmke" - Linksaußen beim THW - nehmen.

"Jetzt schon eine der besten Geschichten der Heim-EM"

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Bellahcenes Bundesliga-Erfahrung könnte eine echte Trumpfkarte für die Franzosen werden: In bislang 13 Partien im deutschen Oberhaus mit einer Spielzeit von über vier Stunden parierte der 1,91 Meter große Schlussmann 59 Bälle, davon sechs Siebenmeter bei einer Fangquote von 32,6 Prozent. Nur drei Bundesliga-Keeper mit mehr als zehn Spielen haben eine noch stärkere Quote vorzuweisen: Löwen-Torhüter Mikael Appelgren (33,11 Prozent), Magdeburgs spanischer Nationalkeeper Sergey Hernandez (33,22) und Flensburgs Kevin Möller (33,33).

Die Fan-Herzen im Sturm erobert

Füchse-Sportvorstand Stefan Kretzschmar taufte den Franzosen wegen seiner 120 Kilogramm in Anspielung an Berlins Keeper den "französischen Dejan Milosavljev". Wie dieser aber hat er die Bundesliga und die Fan-Herzen im Sturm erobert.

Der THW Kiel hatte Bellahcene aus der Not heraus verpflichtet, weil Olympiasieger Vincent Gerard mit anhaltenden Verletzungsproblemen kämpfte und dem deutschen Rekordmeister nie helfen konnte. Dass Gerard besser als Bellahcene in Kiel performt hätte, ist aber kaum vorstellbar. Doch auch wegen des Menschen Bellahcene verlängerten die Verantwortlichen kurz vor Weihnachten den zuvor bis Sommer 2024 laufenden Vertrag vorzeitig um ein Jahr.

"Samir kam kurzfristig im September zu uns, hat aber trotz dieser schwierigen Voraussetzungen sofort Leistung gebracht", lobte THW-Geschäftsführer Viktor Szilagyi: "Darüber hinaus ist er mit seiner Energie und seinen Emotionen bereits jetzt ein wichtiger Faktor innerhalb unserer Mannschaft."

Die "vielleicht größte Chance meines Lebens"

Bellahcene sprach nach dem Wechsel nach Kiel von der "vielleicht größten Chance meines Lebens". Der am 20. Februar 1995 in Montpellier geborene Schlussmann startete seine Ausbildung in der Jugendabteilung des französischen Topklubs Montpellier, wo er in der Saison 2016/17 auch sein Profi-Debüt sowie den Pokalsieg feiern durfte.

Der Weg führte aber nicht geradewegs nach oben. Bellahcene war nicht erste Wahl und ging den Umweg über Zweitligist Massy Essonne, wechselte 2018 zu US Dunkerque. Eine goldrichtige Entscheidung, wie sich herausstellen sollte. Bellahcene wurde Stammtorhüter und Kapitän des Teams. Mit bemerkenswerten Leistungen spielt er sich in den Fokus der französischen Nationalmannschaft, für die er am 26. April 2023 in Lettland debütierte. Da war Bellahcene bereits 28.

Er ist ein Typ, bei dem man gar nicht anders kann, als ihn zu mögen.

Filip Jicha über Samir Bellahcene

Mit harter Arbeit hat sich Bellahcene nach oben gekämpft und hat - wie im Handball nicht unüblich - vielleicht sogar noch ein ganzes Jahrzehnt auf allerhöchstem Niveau vor sich. In Kiel könnte auch Cheftrainer Filip Jicha nicht zufriedener mit ihm sein: "Samir hat gezeigt, dass er uns direkt eine große Hilfe sein kann - auf dem Feld, aber auch außerhalb mit seiner positiven Art. Er ist ein Typ, bei dem man gar nicht anders kann, als ihn zu mögen."

Bellahcene, auch wegen seiner großen Emotionen mittlerweile einer der Publikumslieblinge in Kiel, ist einfach froh, "dass ich meinen Traum beim THW noch länger leben kann". Und einen ersten Europameistertitel in seiner Wahlheimat Deutschland würde er fraglos auch als einen solchen bezeichnen.

Axel Kromer

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