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EM-Quali: Warum Luxemburg plötzlich ernstzunehmen ist

Realistische Chance in der EM-Qualifikation

Das Schnauzbart-Vermächtnis: Warum Luxemburg plötzlich ernstzunehmen ist

Ein Fußball-Zwerg ganz groß: Luxemburg um Leandro Barreiro (li.) und Verbandspräsident Paul Philipp (re.).

Ein Fußball-Zwerg ganz groß: Luxemburg um Leandro Barreiro (li.) und Verbandspräsident Paul Philipp (re.). imago images (3)

Eigentlich hat Paul Philipp Hochverrat an seinem Land begangen. "Mir wëlle bleiwe wat mir sinn", so lautet das offizielle Nationalmotto Luxemburgs. Der 72 Jahre alte Philipp hat sich dagegen aufgelehnt. Er wollte nicht bleiben, was er war - der Prügelknabe eines ganzen Kontinents.

Es mag vermessen sein, einen Mann mit der Nationalmannschaft eines ganzen Landes gleichzusetzen. Aber wenn es in einem Fall zumindest ansatzweise berechtigt ist, dann bei Philipp. 14 Jahre war er Nationalspieler, dann 16 Jahre Nationaltrainer, seit 19 Jahren ist er Verbandspräsident. Mr. Luxemburg. Ein Leben in der Niederlage. Sein Engagement genauso ungebrochen wie sein ewiger Schnauzbart. "Ich kenne nichts anderes als das", sagte er im März der britischen "Daily Mail". "Es ist für mich viel mehr als ein Job."

Das Stadion ist neu - und immer ausverkauft

Ein Lebenswerk, das sich aktuell seinem bisherigen Höhepunkt nähert. Luxemburg liegt in der EM-Qualifikationsgruppe J nur drei Punkte hinter Platz zwei, der für die Teilnahme an der Endrunde berechtigt, hat in Bosnien und gegen Island gewonnen und der Slowakei auswärts ein 0:0 abgetrotzt. Das erst 2021 eingeweihte Stade de Luxembourg mit knapp 10.000 Plätzen ist für alle verbleibenden Qualifikationsspiele ausverkauft. Noch vor einigen Jahren kamen maximal 5000 Menschen zu den Länderspielen, wenn es nicht gerade gegen ein Schwergewicht ging.

Nach den beiden kommenden Auftritten in Island am Freitag und vor allem gegen die zweitplatzierten Slowaken am Montag könnte das Land mit einer Fläche so groß wie das Saarland und einer Einwohnerzahl wie Stuttgart tatsächlich auf Kurs Europameisterschaft liegen.

Luxemburg in der EM-Quali

Was jetzt gar nicht mal abwegig erscheint, war vor einigen Jahren höchstens auf der Konsole denkbar. Schwierigkeitsstufe "Halb-Profi", maximal. Was wiederum ganz gut passt. "Wir hatten damals einen oder zwei professionelle Spieler", sagt Philipp über die dunkelste Phase "seiner" Nationalmannschaft. Von 1995 bis 2007 gewann Luxemburg kein einziges Länderspiel, im Kalenderjahr 1998 reichte es nicht einmal zu einem Tor. Man verlor in diesem Zeitraum 0:7 gegen Rumänien, 0:5 gegen Israel - sogar 0:4 gegen Liechtenstein und 0:2 gegen die Färöer-Inseln. In der FIFA-Weltrangliste rutschte Luxemburg 2006 auf Platz 186 von 197 ab. Viel schlechter geht nicht.

Paul Philipp

Hat schon als Nationaltrainer viel Schweiß für Luxemburg vergossen: Paul Philipp bei einem Länderspiel 1999. imago images/Mary Evans

Mittlerweile besteht Luxemburgs Kader ausschließlich aus Profis - oder solchen, die es werden wollen. Einzig der Ersatztorwart spielt noch in der heimischen Liga, ein beträchtlicher Teil der Spieler ist in Deutschland aktiv. Teilweise als fester Bestandteil des Profikaders, teilweise noch - und das macht dem Verband besonders Hoffnung - in der U 19 oder U 17. 50 oder 60 luxemburgische Teenager, schätzt Philipp, spielen aktuell in Nachwuchsleistungszentren in Deutschland, Frankreich oder Belgien. "Das ist der Hauptgrund, dass wir jetzt so viele Profis haben", sagt er. "Nur so können wir ein gewisses Level halten."

Aber wie kommt es, dass es überhaupt so viele Talente aus dem kleinen Land in die benachbarten großen Ligen schaffen, wo die Nationalspieler vor 20 Jahren noch Lehrer oder Bankangestellte waren? "Der Startpunkt von allem", sagte Philipp der "Daily Mail", "war die nationale Akademie". 2001 war sie auch auf Drängen von Philipp eröffnet worden, kurz bevor er als Nationaltrainer aufgehört hatte - nach 16 Jahren, in denen er in 87 Spielen ganze drei Siege geholt hatte. Das Vermächtnis des vielleicht erfolglosesten Trainers Europas an seine Nachfolger.

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Dass auf den Bildern der Akademie-Eröffnung neben dem ewigen Schnauzbart auch das Gesicht von Michel Platini zu sehen ist, ist kein Zufall. In ihren Grundzügen ähnelt die luxemburgische Akademie erstaunlich stark dem "Centre national du football" in Clairefontaine, das den Grundstein für den Erfolg der französischen Nationalmannschaft in der Vergangenheit legte - mit einem großen Unterschied.

"Wir haben den kleinen Vorteil, dass die Spieler nur sehr kleine Distanzen reisen müssen", erklärt Philipp. "Wir scouten die Kinder ab acht Jahren und mit zwölf kommen sie in die Akademie." Während Frankreich nur die Spieler aus dem Großraum Paris nach Clairefontaine schicken kann und der Rest in regionalen Außenstellen landet, kann Luxemburg alle talentierten Spieler eines Jahrgangs zusammenbringen. Unter der Woche wird unter den besten Jugendcoaches des Landes trainiert, bei den Heimatklubs sind die Talente nur für die Spiele am Wochenende.

Leandro Barreiro

Plan perfekt aufgegangen: Leandro Barreiro nach dem Sieg über Liechtenstein. IMAGO/Gerry Schmit

Doch alleine in Luxemburg können keine Top-Talente ausgebildet werden. Dafür fehlt schlicht die Qualitätsdichte der wenigen Klubs, die luxemburgische Liga ist noch immer weit von Profi-Verhältnissen entfernt. "Wenn die Spieler 16 oder 17 sind, sprechen wir mit den Profi-Klubs in unserem Netzwerk", erläuterte Philipp gegenüber der "Irish Times". Ganz offensichtlich darunter: Mainz 05. Schließlich ist der luxemburgische Plan wohl nirgendwo so perfekt aufgegangen wie bei Leandro Barreiro, der mit 16 ins Nachwuchsleistungszentrum der Rheinhessen wechselte und nun sowohl beim Bundesligisten als auch beim luxemburgischen Nationalteam zu den Leistungsträgern gehört.

Die Lösung Mainz ist im wahrsten Sinne des Wortes eine naheliegende, schließlich sind es nur rund 200 Kilometer von dort zur luxemburgischen Grenze. So befinden sich in U-19-Spieler Aiman Dardari und dem derzeit für die zweite Mannschaft spielenden Timothé Rupil noch zwei weitere Spieler im Dunstkreis der luxemburgischen Nationalmannschaft, die fast den identischen Karriereweg wie Barreiro gegangen sind.

Vorbild Island: "Sie haben das gleiche Grundproblem"

Ausgerechnet ein aktueller Gruppenkontrahent diente dem luxemburgischen Weg dabei als Vorbild. "Ich war zwei- oder dreimal in Island, um mit den dort Verantwortlichen zu sprechen", berichtet Philipp. "Sie haben das gleiche Grundproblem wie wir." Zu wenige Menschen, zu wenige professionelle Vereine. "In Island wollen alle talentierten jungen Spieler runter von der Insel, nach England, nach Europa. Diese Mentalität wollen wir unseren Spielern auch weitergeben."

Aber war da nicht was? "Es war wirklich schwer, diese Einstellung hierher zu bekommen", klagt Philipp. Ach ja: Mir wëlle bleiwe wat mir sinn. In der Vergangenheit, sagt er, haben Eltern ihre Teeanagerkinder gar nicht weg aus Luxemburg schicken wollen. Für die Nationalmannschaft? Verlieren die nicht sowieso immer? Aber auch das ist momentan kein Thema mehr.

Wir sind ein Dorf, wir werden niemals Weltmeister werden.

Paul Philipp

Während der wachsende Erfolg der Nationalmannschaft ein Teil der Lösung dafür war, tut sich ein anderes Problem auf: Der wachsende Erfolg der Nationalmannschaft. "Wir müssen den Menschen zuhause klar machen, dass wir nicht in dem Tempo wachsen können, wie es in den letzten sechs Jahren der Fall war", sagt Philipp. "Wir sind ein Dorf, wir werden niemals Weltmeister werden. Wir sind klein und werden immer klein sein."

Einen kleinen Reminder für alle, die das Nationalmotto vor lauter Euphorie vergessen hatten, lieferte zuletzt die portugiesische Nationalmannschaft - 0:9 hieß es Mitte September, ein Rückfall in alte Zeiten. Philipp erzählte bei RTL angefressen, er habe nach dem Spiel wieder reichlich Mitleid erfahren. Genau das Mitleid, das er über Jahrzehnte so gehasst hat und zuletzt weg war. Prämien für die EM-Qualifikation wolle er auch nicht ausloben, zu sehr wurmt ihn das Spiel noch: "Es war ein Alptraum."

Ein Rückfall in alte Zeiten

Luc Holtz stimmte ein. "Wir wurden aufgefressen", resümierte der Nationaltrainer, eigentlich einer der Garanten des luxemburgischen Aufschwungs. Seit über 13 Jahren steht er schon in der Verantwortung, hat die sportliche Entwicklung maßgeblich mitgeprägt. Weltweit ist unter allen aktuellen Nationaltrainern nur Koldo Alvarez in Andorra länger im Amt.

In einer anderen Statistik genießt Luxemburg hingegen weltweiten Alleinstellungsstatus - wenn auch traurigen. Das Großherzogtum ist das einzige Land, das an jeder WM-Qualifikation teilgenommen hat, ohne sich je zu qualifizieren. Ab 2026 findet die Weltmeisterschaft mit 48 Mannschaften statt. "Wir können immer träumen", findet Philipp. Dann wäre er nicht nur Hochverräter, sondern auch Nationalheld.

Michael Bächle

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