Bundesliga (D)

"Der Ball gehorcht ihm": Krätzigs schöne Bescherung

Bayern-Talent war in der Jugend "fußballerisch allen voraus"

"Der Ball gehorcht ihm": Krätzigs schöne Bescherung

Stand in der Bundesliga viermal für den FC Bayern auf dem Platz: Frans Krätzig.

Stand in der Bundesliga viermal für den FC Bayern auf dem Platz: Frans Krätzig. IMAGO/ActionPictures

Nach dem letzten Spiel in Wolfsburg ging es, klar, "sofort nach Hause", nach Nürnberg. "Weihnachten ist Zuhause". Für Frans Krätzig (20) war eigentlich das letzte halbe Jahr Weihnachten, ein Fest der Freude. Denn die komplette Hinrunde gehörte der junge Mann zum Profikader des FC Bayern, in sämtlichen 25 Pflichtspielen. Und in jedem der drei Wettbewerbe durfte er aktiv mitwirken, wenn auch zumeist nur kurzzeitig.

Aber selbst diese Nebenrolle war für ihn eine schöne Bescherung. "Bei so einem Kader ist es ganz normal, dass man sich als junger Spieler hinten anstellt und alles mitnimmt und lernt und lernt und lernt", sagt Krätzig. "Wenn ich auf der Bank sitze, versuche ich, alles aufzusaugen." Inmitten der Schar der Münchner Stars findet er "überall so viel Professionalität, Sachverstand und auch Menschlichkeit, da kann ich sehr viel lernen, deswegen nehme ich es positiv an".

Kane beeindruckt Krätzig

Da ist zum Beispiel der derzeit hellste Stern, Superstar Harry Kane (30), "die Professionalität in Person", wie Krätzig sagt. "Er ist jeden Tag pünktlich, ja überpünktlich, kommt als Erster, macht immer sein Pensum vor und nach dem Training und versucht immer, für jeden da zu sein." Nachwuchsspieler Krätzig bewundert dieses Verhalten, für ihn ist es "einfach top" und "beeindruckend, wie man in seinem Job und gleichzeitig menschlich so gut sein kann".

Vor dem Start ins Fußballjahr 2023/24 sah der damalige Amateur des FC Bayern den Kapitän der englischen Nationalmannschaft und Toptorjäger der Premier League noch allenfalls im Fernsehen, "ihn jetzt persönlich zu kennen und mit ihm in einer Mannschaft zu spielen ist einfach cool". Doch trotz seiner Aufnahme in die Elite des deutschen Rekordmeisters weiß Krätzig, woher er kommt.

Es war im Hinspiel der Champions League in Kopenhagen, Anfang Oktober. Damals weilte der mit 16 Treffern beste WM-Torschütze, Miroslav Klose (45), als TV-Experte im Stadion und sah, wie sich sein früherer Schüler Frans mit den FCB-Jungs, die wegen der Youth League mitgereist waren, vor der Partie der Profis auf der Tribüne unterhielt. "Das ist Charakter", lobt Klose, "das sind seine Jungs", noch unbekannte Talente wie Benedikt Wimmer, Lennard Becker oder Kurt Rüger, die alle von der Entwicklung träumen, die Krätzig schon gelungen ist.

Krätzig machte mit einem Tor auf der Asientour auf sich aufmerksam

Die Zulassung zu diesem erlesenen Profikreis glückte Krätzig bei der FCB-Asientour im Sommer, als er gegen Liverpool einen weiten Schlag Matthijs de Ligts aus halblinker Position mit seinem starken linken Fuß spektakulär von der Strafraumlinie aus zum 4:3-Siegtor in den Winkel hämmerte. Trainer Thomas Tuchel hatte bereits damals diesen Nachwuchsspieler als "netten Kerl" mit einem "fantastischen Charakter" gelobt, als "sehr intelligent und schlau auf dem Platz".

Krätzig bestätigte die hohe Meinung seines Chefs weiterhin im Training, wo er sich "einfach top" präsentierte, wie der Coach sagte. Also genehmigte er ihm in der zweiten Septemberhälfte binnen fünf Tagen die Premiere in der Bundesliga sowie im DFB-Pokal, wo sich Krätzig artig mit seinem ersten Pflichtspieltreffer zum 3:0 in Münster bedankte. Tuchels Erwartungen hatte er, eher der feinfüßige Typus Raphael Guerreiro als der Renner Alphonso Davies, ganz selbstverständlich erfüllt. Plötzlich gab es da ganz unvermutet einen zusätzlichen Spezialisten für die linke Seite.

Er selbst habe sich "spaßeshalber immer als Allrounder bezeichnet", merkt Krätzig zu seiner möglichen Planstelle an, "aber wenn es darauf ankommt, sehe ich mich hinten links" - ohne allerdings eine andere Position auszuschließen, wie er anfügt: "Weiter vorne oder im Zentrum fühle ich mich auch wohl." Vielseitigkeit ist ganz besonders für einen Nachwuchsspieler ein Vorteil, der Azubi Krätzig ist ein Kandidat für vier Jobs: links hinten und vorne, halblinks und in der Mitte. Als "super klar" und "hellwach" hat Tuchel diesen Spieler kennengelernt, "ein guter Junge", "ein sehr guter Fußballer".

Fußballerisch war er allen voraus.

Miroslav Klose

Klose hatte diese Erkenntnis schon vor gut vier Jahren gewonnen, als er Krätzig in Münchens U 17 in der Saison 2019/20 ausbildete. "Fußballerisch war er allen voraus", sagt der 2014er Weltmeister und erinnert sich zuallererst an "die hohe Fußballintelligenz" seines damaligen Schülers, an dessen Übersicht und "gute Lösungen im Positionsspiel". Deshalb haben ihn die Mitspieler immer gesucht, "weil Frans im richtigen Moment die richtigen Bälle spielte". Mit seiner technischen Raffinesse glich der Linksfüßer seine körperliche Unterlegenheit aus.

Schon Klein-Frans, dessen Vorbild in jungen Jahren "immer Messi" war, setzte sich mit dieser spielerischen und technischen Fertigkeit durch. Quirlig und wendig bewegte er sich zudem. "Obwohl er überall der Kleinste war, stach er immer hervor", sagt Stefan Kühnlein (42), noch heute Mittelstürmer des Kreisligisten Post SV Nürnberg. Vor 15 Jahren übernahm er als Trainer die G-Jugend des Vereins, weil sein Sohn Philipp zu dieser Altersgruppe zählte. In der Schar der 25 Bambini-Kicker fand sich auch ein Junge mit hellblondem, langem, wehendem Haar, die zu lange Hose über seine Knie hängend, "stets ein Strahlen im Gesicht", wie Kühnlein sagt, "ein Sonnenschein".

Bis zum Ende der F-Jugend, also drei Jahre lang, half Kühnlein dem Hochbegabten. Er erzählt von einem Training in Karlsruhe mit Joachim Löw, an das sich auch Krätzig sofort erinnert. "Die Mutter eines Mitspielers hatte bei einem Preisausschreiben ein Training mit dem damaligen Bundestrainer gewonnen", erzählt er, "das war eine super Erfahrung, ziemlich cool." Und dann kam der Tag, an dem Frans, gerade neun Jahre, zu Kühnlein sagte: "Du, Stefan, ich möchte es beim 1. FC Nürnberg probieren." Das Probetraining hatte er zuvor bestanden.

Frans Krätzig und Luca Denk

Die besten Freunde Frans Krätzig (Mitte) und Luca Denk (r.) lernten sich bereits in der U 9 vom 1. FC Nürnberg kennen. IMAGO/foto2press

Fünf Jahre blieb Krätzig beim Club, vom zweiten Jahr E- bis zum Ende der C-Jugendzeit. Krätzig denkt "sehr gerne" an diese Zeit zurück. "Es waren meine ersten Erfahrungen im Nachwuchsleistungszentrum", seine ersten Kumpels im Fußball hat er dort gefunden, "meinen besten Freund Luca Denk habe ich in der U 9 des 1. FC Nürnberg kennengelernt". Beide wohnen noch heute in München zusammen. "Es war eine coole Zeit", sagt Krätzig, "wir waren eine gute Gemeinschaft."

Doch dann lockte der FC Bayern. Dessen damaliger Chefscout Timon Pauls (31), inzwischen für Hertha BSC Berlin tätig, erkannte das Potenzial des schmächtigen Frans, der fußballerisch stark, körperlich aber schwach war. Deshalb gab es durchaus Zweifel: Würde er es schaffen? "Relativ leicht" sei es gegangen, merkt Pauls an, das Talent "loszueisen".

Das Gespräch über den Wechsel habe Frans, unterstützt von Mama Christiane und Papa Bastian, jedoch ohne Berater, "selbst geführt", berichtet Pauls, noch heute beeindruckt: "Das war echt heftig, er konnte gerade über den Tisch schauen" - klein, aber oho. Krätzigs sagten zu. "Es war eine Entscheidung für meine Weiterentwicklung", erklärt Frans heute und bewertet den Schritt "im Nachhinein als richtig". Zudem, meint er generell, "kann man schlecht nein sagen, wenn der FC Bayern anklopft. Der neue schmucke FCB-Campus lockte zusätzlich, das Geld war es eher weniger, 350 Euro gab es damals im ersten, 450 im zweiten und 550 Euro im dritten Jahr, wo heute schon mal 6000 Euro pro Monat fließen.

Vom 1. FC Nürnberg ging lediglich eine sanfte Beschwerde in München ein. "Irgendein Bereichsleiter, nicht einmal der Jugendleiter", so Pauls, habe angerufen, während der seinerzeit für den FC Augsburg zuständige Manuel Baum (heute RB Leipzig) in vergleichbaren Fällen "nach München kam und uns fast die Hütte abgerissen hat". Eine Entschädigung von rund 15 000 Euro kassierte der Club für die fünfjährige Ausbildung von 2012 bis 2017, für den Post SV gab es 5000.

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Am Valznerweiher liegt die Gesamtleitung des Nachwuchsleistungszentrums seit September 2019 bei Michael Wiesinger (50). Vor dessen NLZ-Übernahme verlor der Club einige Talente an den FC Bayern. Wie Krätzig verabschiedete sich 2017 Innenverteidiger Denk (20/ heute FC Bayern II), ebenso Marcel Wenig (19/ Mittelfeld, heute Eintracht Frankfurt II); 2018 folgte Stürmer Arijon Ibrahimovic (17/ bis 2024 in die Serie A an Fresinone Calcio verliehen).

Für Wiesinger sind diese Verluste Vergangenheit. "Wir haben uns vorgenommen, dass wir ab sofort weniger Talente verlieren wollen", sagt der FCN-Jugendchef und beschreibt die reformierte Arbeitsmethode: "Wir sind frühzeitig an unseren Jungs nah dran, beziehen ihre Eltern mit ein, vermitteln ihnen unsere Wertschätzung und zeigen ihnen glaubwürdig den Weg in den Profifußball auf." Bei Can Uzun (18) hat der Widerstand gegen den FC Bayern gehalten; vorerst zumindest.

Selbstverständlich verfolgt der im Nürnberger Stadtteil Johannis geborene Krätzig genau, was in seiner Heimatstadt und beim Club abläuft. Trotz mancher Rückschläge werde dort "guter Fußball" gespielt, sagt er wohlwollend, "es läuft im Moment in die richtige Richtung". Und "an Höhen und Tiefen war man als Club-Fan in der Vergangenheit gewöhnt".

Frans kommt noch heute immer wieder nach Nürnberg, in Englischen Wochen klappte es höchstens, aber immerhin zweimal im Monat. Die Mama lebt in der Vorstadt in Mögeldorf, der Papa in der Kleinstadt Schwabach. Wenn ihr Sohn Frans redet und unter seiner dunkelblauen Wollmütze hervorlugt wie Michel aus Lönneberga unter seiner Schirmmütze, ist, so sein O-Ton, "nur a bissl Fränkisch herauszuhören, die Family spricht Hochdeutsch, deshalb ist mein Fränkisch nicht so ausgeprägt".

Wenn der FC Bayern sagt, er braucht mich, dann werde ich um 7 Uhr morgens an der Tür stehen und sagen: Hier bin ich.

Frans Krätzig

Wie geht es für ihn weiter? Für seine gezielte Fortbildung akzeptiert Krätzig jedes Modell. "Wenn der FC Bayern sagt, er braucht mich, dann werde ich um 7 Uhr morgens an der Tür stehen und sagen: Hier bin ich." Aber auch einen vorübergehenden Abschied schließt er nicht aus und sagt: "Wenn es beide Seiten wollen, kann man auch über eine Ausleihe nachdenken." Krätzig und sein beratendes Umfeld sind klug genug zu wissen, dass selbst das popularitätssteigernde Leben auf der Bayern-Bank einen Fußballer sportlich nicht voranbringt.

In der Winterpause soll der beste Weg besprochen werden. Ein Verleih war schon im vergangenen Sommer angedacht, Philipp Lahm, David Alaba oder Serge Gnabry sind prominente Namen, bei denen dieser Ausbildungsweg zum großen Ziel führte. Der ebenfalls als hochbegabt eingestufte Paul Wanner (17) macht derzeit ein Lehrjahr beim Zweitligisten Elversberg, Gianluca Gaudino (26) ist seit 1. Juli 2023 vereinslos. Es kann also in verschiedene Richtungen gehen: nach oben wie nach ganz unten.

Krätzig selbst hatte auch schon eine heikle Phase zu überstehen. In seinem zweiten Jahr in der U 19 fiel er wegen einer Schambeinentzündung und eines Leistenbruchs sieben Monate lang aus. "Da geht einem schon durch den Kopf, was passiert, wenn es mit dem Fußball nicht klappt", sagt Frans, "ob man besser studieren soll." Krätzig hatte für den negativen Extremfall vorgesorgt und sein Abitur (Sozialwesen, Schnitt: 2,4) gemacht und begann, vorübergehend Sportmanagement zu studieren.

Klose kann sich nicht vorstellen, dass sich Krätzig in München durchsetzt

Er weilte in dieser Zeit viel zu Hause, grübelte und rät auf der Basis von zwei Jahrzehnten Lebenserfahrung: "Jeder Jugendspieler sollte sich darüber Gedanken machen, weil es so schnell vorbei sein kann." Für ihn ging es weiter. Steil nach oben. Doch nun muss der im Fußball ständig beschworene "nächste Schritt" auf dieser Tour erfolgen. Wie soll der aussehen?

Hermann Gerland (69), in München Krätzigs großer Fürsprecher, nennt für die notwendige Weiterbildung permanente Spielpraxis als fundamental, "und dann wird Frans ein sehr interessanter Bundesligaspieler", denn: "Der Ball gehorcht ihm." Pauls schließt sich dieser Prognose an, möchte aber "vorsichtig" sein mit der Antwort, "ob es für den Spitzenbereich reicht". Klubs wie Wolfsburg oder Mönchengladbach in guten Zeiten, also das zweite Drittel der Bundesliga, seien "auf jeden Fall" Anlaufstationen für Krätzig. Klose kann sich derweil "nicht vorstellen", dass sich Krätzig beim großen FC Bayern durchsetzen wird, selbst die Bundesliga werde "schwierig".

In jedem Fall hat Krätzig im Oktober seine Anstellung beim FC Bayern bis 2027 gesichert. "Meinen ersten Profivertrag gleich beim FC Bayern zu unterschreiben, das ist natürlich der Wahnsinn", sagt er, "beim größten Verein Deutschlands und einem der größten der Welt" - für ihn ist das "fantastisch". Das Fundament ist gelegt. "Ich hoffe", sagt Krätzig, "dass das für mich erst der Start zu noch mehr ist".

Er selbst ist willens, dazu seinen optimalen Beitrag zu leisten. Die Gefahr des Größenwahns schließt Gerland bei ihm aus, er nennt Krätzig "den bodenständigsten Kerl, den ich kenne". Auf dem Platz kommt der Jungprofi selbstbewusst rüber. Da könne er "alles gut ausschalten", sagt er, "da bin ich ganz bei mir". Immer wieder ist sein erhobener Arm zu sehen, weil er den Ball haben möchte. "Ich will mich zeigen", erklärt er. "Ich bin ein offener Typ, auf dem Fußballfeld und außerhalb."

Krätzig hat seine ersten Schritte in der Welt des großen Fußballs gemacht, sogar in der europäischen Eliteliga, der Champions League. Gegen Kopenhagen wurde er in München in der 86. Minute eingewechselt und hätte fast das 0:0-Ergebnis verändert, indirekt zumindest, weil er beinahe einen Handelfmeter herausgeholt hätte. Die französische Schiedsrichterin Stephanie Frappart revidierte ihre Entscheidung jedoch per VAR. Egal, für Krätzig war seine internationale Premiere "sehr gut, sehr cool und etwas Besonderes", wie er sagt: "Ich lebe gerade den Traum, auf den ich jahrelang hingearbeitet habe. Ich hoffe, dass das erst der Anfang ist."

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